Jacek Kochanowicz
Friedrich Griese
Jacek Kochaniwicz
Transit - Europäische Review
Transit
2002-02-26
Wie westlich ist Polen?
Wo hört der Westen auf und fängt der Osten an? Polen ist momentan noch die Erfoglsstory der Verwestlichung - aber es darf nichts schiefgehen. Historisch gesehen stand Polen einmal dem Westen näher, dann war es Teil vom Osten Europas, und natürlich gehörte es auch einer eleganten Ziwschenlösung - "Mittelosteuropa" - an. Die Grenze zwiechen West- und Osteuropa bleibt schwer zu zeichen, wie Kochanowicz am Beispiel Polen zeigt.
Die Frage, ob Polen zum Westen gehört oder nicht, ist nicht leicht zu beantworten. Sie hängt von der Wahrnehmung ab, und Wahrnehmungen ändern sich. Das heutige Polen ist ein interessantes Beispiel, an dem sich die Verwestlichung untersuchen lässt. Als zweitgrößtes Land in der Region hat es den radikalsten Versuch unternommen, das kommunistische System zu verändern (Solidarnosc 1980/81), als erstes Land begann es mit dem radikalen Übergang zur Marktwirtschaft, und es gilt als eines der erfolgreichsten Transformationsländer. Die Marktreformen werden fortgesetzt, die Demokratie funktioniert, die Medien sind frei, die Menschenrechte werden eingehalten. Wenn man durchs Land fährt, sind die Straßen voller westlicher Autos, die Tankstellen tragen die Namen bekannter Konzerne, und man sieht viele der sprichwörtlichen McDonald's-Restaurants. In Warschau wird fast jeden Monat ein neuer Büroturm oder Supermarkt eingeweiht. Visa und Mastercard werden überall anerkannt, und selbst in einem Provinzstädtchen fühlt ein Tourist oder Geschäftsmann sich nicht verloren, wie er es vor zwanzig und selbst noch vor zehn Jahren getan hätte.
Man könnte also sagen, dass Polen heute zum Westen gehört. Aber gehört es wirklich dazu? Stellen wir uns einmal vor, dass etwas schiefgeht: Die Wachstumsrate sinkt, die Inflation steigt, die ausländischen Investitionen versiegen. Korruptionsskandale, in die wichtige Politiker verwickelt sind, geraten ins Visier der ausländischen Medien. Soziale Spannungen führen zu politischen Unruhen, und nationalistisch eingestellte, populistische Politiker bekommen Zulauf. Wenn dazu noch die Europäische Union Probleme bekommt und die Vereinigten Staaten zum Isolationismus übergehen, kann man sich leicht vorstellen, dass die Stimmung umschlägt und viele im Westen die Zugehörigkeit Polens zu ihrem Teil der Welt in Zweifel ziehen.
Das Problem ist, dass Polen in historischer Sicht - und diese Perspektive möchte ich hier verfolgen - zugleich zum Westen gehörte und auch wieder nicht. Kulturell ist Polen weitgehend ein Teil des Westens. Ein Jahrtausend lang kamen die Religion, die Ideen, die Rechtsinstitutionen und die wissenschaftlichen Traditionen überwiegend aus dem Westen. Doch das Wirtschaftssystem und die Sozialstrukturen wichen über die längste Zeit der polnischen Geschichte vom westlichen Muster ab, und Land und Leute wurden in beträchtlichem Maße von nichtwestlichen Traditionen beeinflusst. Gerade wegen dieser Ambiguität wurde für Polen und einige andere Länder der Region der Begriff Mittelosteuropa eingeführt. Mittelosteuropa ist nur einer der möglichen Namen, die man dieser unterschiedlich definierten Region gegeben hat, neben Ostmitteleuropa oder gar einfach Mitteleuropa. Siehe zum Beispiel Oskar Halecki, The Limits and Divisions of European History, London/New York 1950; Jenö Szücs, "The Three Historical Regions of Europe," in: Acta Historica Academiae Scientiarium Hungaricae, Bd. 29, Nr. 2-3 (1983), S. 131-184 (dt.: Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt a.M. 1990); Jerzy Kloczowski, East Central Europe in the Historiography of the Countries of the Region, Lublin 1995; Sven Tägil (Hg.), Regions in Central Europe: The Legacy of History, London 1999; George Schöpflin / Nancy Wood (Hg.), In Search of Central Europe, Totowa 1989. Dies ist nur eine Auswahl aus der ständig wachsenden essayistischen und wissenschaftlichen Literatur zum Thema. Darüber hinaus war "der Westen" kaum je bereit, Polen als Vollmitglied seiner Gemeinschaft zu betrachten, gleich, wie stark der westliche Einfluss auf es war.
Dieser Wahrnehmung des Westens entsprechen die Gefühle der Polen selbst. So gefährlich allzu weitgehende Verallgemeinerungen sind, wird man dennoch sagen können, dass die Polen sich meistens als Teil des Westens gefühlt haben, zugleich aber ein Problem damit hatten, nicht voll akzeptiert und als irgendwie minderwertig behandelt zu werden. Diese Gefühle erklären die große Erregung, mit der jeder Fall aufgenommen wird, in dem ein Pole im Westen Erfolg und Anerkennung findet. Nur wenige lesen die Gedichte von Czeslaw Milosz oder Wislawa Szymborska, doch als die beiden den Literaturnobelpreis erhielten, jubelte das ganze Land.
Dass die Wahrnehmungen sich ändern, lehrt ein kurzer Blick in die neuere Geschichte. Während des Kalten Krieges wurden alle sowjetischen Satellitenländer unter einem Begriff zusammengeworfen: Osteuropa. Dann wurde von den Osteuropäern selbst der Begriff Mitteleuropa (wieder)erfunden, in der Annahme, einige Länder Osteuropas seien westlicher oder weniger östlich als andere. In den Anfängen der Transformation, als alle den Kommunismus abschüttelten, gerieten diese Unterschiede ein wenig in Vergessenheit, doch am Ende des letzten Jahrzehnts traten sie wieder hervor, als deutlich wurde, dass die Ergebnisse der Transformation innerhalb der Region sehr stark voneinander abweichen.
Da die aktuelle Wahrnehmung der Beziehungen Polens zum Westen eng mit den jüngsten Erfahrungen der postkommunistischen Transformation zusammenhängt, soll zunächst diese in Augenschein genommen werden, um danach die polnische Geschichte in größeren Zusammenhängen zu betrachten.
Die postkommunistische Transformation: Westliche Wahrnehmungen und polnische Gefühle
Dass Polen dem Westen nähergerückt ist, erklärt sich aus der Wahrnehmung des Zerfalls des Kommunismus und der anschließenden Transformation. Polen hatte in den letzten zwanzig Jahren durchweg eine gute Presse und konnte mehrmals die Aufmerksamkeit des Westens auf sich lenken. Die sechzehn Monate der Solidarnosc in den Jahren 1980/81 lockten viele Journalisten und Sozialwissenschaftler nach Polen. Das Ergebnis waren umfangreiche Presseberichte und etliche interessante Bücher. Über die Solidarnosc gibt es wahrscheinlich mehr Bücher auf englisch als auf polnisch. Neal Ascherson, The Polish August: The Self-limiting Revolution, New York 1982; Timothy Garton Ash, The Polish Revolution: Solidarity, New York 1984; Michael D. Kennedy, Professionals, Power, and Solidarity in Poland: A Critical Sociology of Soviet-type Society, Princeton UP 1996; Roman Laba, The roots of Solidarity: A Political Sociology of Poland's Working-Class Democratization, Princeton UP 1991; David Ost, Solidarity and the Politics of Anti-Politics: Opposition and Reform in Poland since 1968, Temple UP, Philadelphia 1990; Jadwiga Staniszkis, Poland's Self-limiting Revolution, Princeton UP 1984; Alain Touraine e.a., in Zusammenarbeit mit Grazyna Gesicka, Solidarity - The Analysis of a Social Movement: Poland, 1980-1981, Cambridge UP 1983. Von diesen Werken ist kaum eines auf polnisch erhältlich. Es gab für dieses Interesse neben den offenkundigen Ursachen - die Dramatik der Ereignisse und ihre mutmaßlichen politischen Folgen, zum Beispiel eine sowjetische Intervention - auch tiefere Gründe. Sympathien fand die Solidarnosc in unterschiedlichen Lagern. Für die antikommunistische Rechte vor allem in Amerika war die Bewegung wichtig, weil sie das "Reich des Bösen" herausforderte. Andere Sympathisanten kann man dem Stichwort "Renaissance der Zivilgesellschaft" zuordnen. Vgl. Adam B. Seligman, The Idea of Civil Society, New York 1992. Die spontane Bewegung der Solidarnosc sowie frühere Regungen demokratischer Opposition in Polen und außerhalb Polens schienen nicht nur einen möglichen Ausweg aus dem Regime sowjetischen Typs anzudeuten, sondern auch einen Hoffnungsstrahl für die westlichen Gesellschaften selbst. Die westlichen Gesellschaften, so glaubten einige, brauchten diese Hoffnung, weil ihre demokratischen Institutionen durch ihre Formalisierung verkümmert waren und der spontanen Unterstützung entbehrten. Das Polen der Solidarnosc 1980/81 war auch für nichtmarxistische Sozialisten interessant, die in ihm eine praktikable Möglichkeit der Arbeiterselbstverwaltung auf verschiedenen Ebenen, vom Betrieb bis zur Führung des Landes, sahen.
Zum zweiten Mal gewann Polen Beachtung und Sympathie während der Gespräche am Runden Tisch im Jahre 1989 und dem anschließenden allmählichen Rückzug der Kommunisten von der Macht. Beobachter verglichen daraufhin Polen und andere osteuropäische Länder mit Lateinamerika, Südeuropa und sogar Südafrika und lobten den "ausgehandelten Übergang".Für eine wissenschaftliche Synthese siehe Juan L. Linz und Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation: Southern Europe, South America, and Post-Communist Europe, The Johns Hopkins UP, Baltimore/London 1996. In diese Sympathien mischten sich oft Zweifel an der Möglichkeit eines gleichzeitigen Übergangs zur freien Marktwirtschaft und zur Demokratie. Pessimisten sahen bei einem allzu energischen Vorantreiben der Marktreformen die Demokratie gefährdet, sei es, weil der Staat, dem vor allem an der makroökonomischen Stabilität gelegen war, sie einschränken würde, sei es, weil politische Spannungen populistischen Führern den Weg ebnen würden. Hielte die Führung dagegen entschlossen an der Demokratie fest, würde eine marktfeindliche Koalition den wirtschaftlichen Wandel blockieren. Vgl. Béla Greskovits, The Political Economy of Protest and Patience: East European and Latin American Transformation Compared, Central European UP, Budapest 1998; Adam Przeworski, Democracy and the Market: Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge UP 1991. Nach 1992/93 schwand der Pessimismus jedoch rasch dahin, denn die Wachstumsrate stieg allmählich, und die reformierte Nachfolgepartei der Kommunisten, die 1993 die Wahlen gewann, hielt an demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen fest. Es zeigte sich zum einen, dass die Demokratie in Polen funktionierte. Es zeigte sich aber auch, dass die radikale Schocktherapie, die Leszek Balcerowicz, der Architekt des polnischen Übergangs zur Markwirtschaft, dem Land verordnete - ganz im Einklang mit dem Washington Consensus (der dem Markt eine dominierende Rolle für die Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft zuschreibt) -, handfeste Ergebnisse zeitigte. Siehe sein Buch 800 dni: szok kontrolowany (800 Tage: ein kontrollierter Schock), Warschau 1992. Von da an galt Polen als Erfolgsgeschichte, und da es eine Zeitlang die höchste Wachstumsrate in Europa aufwies, bezeichnete man es sogar als den "europäischen Tiger". Dieses positive Image Polens scheint sich bis heute zu behaupten, wenngleich es den Anschein hat, als hätten sich die Vorbehalte gegen einen Beitritt Polens zur Europäischen Union verstärkt.
Das heißt natürlich nicht, dass Polen immer und überall eine gute Presse hat. Hin und wieder waren ausländische Beobachter irritiert von der steigenden Bedeutung der populistischen und konservativen Rechten, den antisemitischen Vorfällen, einer rückständigen Landwirtschaft, dem politischen Gewicht der (katholischen) Kirche und den Scherereien, die Straftäter aus Polen in westlichen Ländern machten. Papst Johannes Paul II., der für die Polen so bedeutend ist, dass er nahezu über jede Kritik erhaben ist, wird im Westen durchaus nicht als unumstrittene Persönlichkeit wahrgenommen. Der Ruhm der symbolkräftigsten polnischen Persönlichkeit, Lech Walesas, der während seiner Amtszeit als Präsident wegen seiner einsamen Entscheidungen seine Anziehungskraft auf die Polen einbüßte, ist auch im Westen verblasst. Dennoch hat es den Anschein, dass die gute Presse bisher die schlechte überwiegt, was nicht minder an den Ergebnissen der Transformation in Polen wie an dem westlichen Bedürfnis liegt, wenigstens einige Erfolgsstorys vorweisen zu können, die man dem trostlosen Bild der meisten Nachfolgestaaten der einstigen Sowjetunion und des Balkans entgegenhalten kann. Diesen Zweck erfüllen Polen und Ungarn durchaus.
Die Polen selbst haben vom Transformationsprozess ein eher gemischtes und komplexes Bild. Ich sehe von einer Analyse der Einstellungen der Öffentlichkeit zur Transformation ab und beschränke mich auf einen Kommentar zu den artikulierten Meinungen von Intellektuellen, wie sie in den Medien oder in wissenschaftlichen Publikationen vorgetragen wurden. Die wirtschaftliche Transformation ist hier überwiegend neoliberal begründet worden. Es ist bezeichnend, dass die neoliberale Ideologie von den wichtigsten meinungsbildenden Kreisen Polens ohne größere Probleme akzeptiert wurde. Ein Nachweis würde verlangen, Hunderte von Presseberichten und Leitartikeln anzuführen. Die neoliberale Haltung wird von der führenden polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza sowie den bedeutenden Wochenzeitungen Polityka und Wprost vertreten. "Ideologie" ist dabei rein deskriptiv zu verstehen im Sinne von Ansichten, die eher wegen ihrer Überzeugungskraft als wegen ihres Inhalts bzw. wegen ihrer Wahrheit ausgewählt wurden. Der Neoliberalismus wurde akzeptiert, auch wenn nur ganz wenige die moderne neoklassische Ökonomie, die ihm zugrunde liegt, in all ihren Verästelungen verstanden haben dürften. Einige westliche Beobachter glaubten anfangs, die betont marktwirtschaftliche Haltung sei dem Land von den internationalen Finanzinstitutionen und von den ausländischen Fachleuten aufgenötigt worden. Das traf jedoch nicht zu. Seit Anfang der siebziger Jahre hatten liberale Ansichten (sowohl politischer wie wirtschaftlicher Natur) in Polen Anklang gefunden. Dies war zum Teil weltweiten Entwicklungen zuzuschreiben, namentlich dem wachsenden Zweifel an der Rolle des Staates in der Wirtschaft, die von der Krise des Wohlfahrtsstaates in den hochentwickelten Ländern ebenso genährt wurden wie von der Krise der Entwicklungsmodelle in der Dritten Welt. Polen war relativ freizügig, Akademiker konnten ins Ausland fahren und sich mit den neuen Ideen vertraut machen. Wer mehr wissen wollte, konnte sie durch Samisdat-Veröffentlichungen kennenlernen. Hinzu kam, dass der Marxismus die ihm verbliebene schmale Anhängerschaft durch die Ereignisse von 1968 (sowjetischer Einmarsch in die Tschechoslowakei und steigende Bedeutung des Nationalkommunismus) vollends verspielte. Seit Beginn der achtziger Jahre fochten zwei liberale Zirkel, der eine in Krakau, der andere in Danzig, in Samisdat-Veröffentlichungen dafür, dass die allmähliche Einführung einer Marktwirtschaft unter den Bedingungen eines schwächer werdenden Autoritarismus einen besseren Ausweg aus dem Kommunismus biete als politische Opposition und Menschenrechtsbewegung. Siehe die Darstellung von Jerzy Szacki, Liberalism after Communism, Central European UP, Budapest/London/New York 1995. Außerdem waren etliche Wirtschaftswissenschaftler von den mageren Ergebnissen partieller marktwirtschaftlicher Reformen enttäuscht und sprachen sich immer unverhohlener für durchgreifende Veränderungen aus. Ein maßgebender Vertreter dieser Gruppe ist bekanntlich Leszek Balcerowicz.
Auf diese Weise war das intellektuelle Klima schon auf die radikalen Veränderungen von 1990 vorbereitet. Es gab jedoch, zumindest bis zu den Gesprächen am Runden Tisch von 1989, noch ein anderes, konkurrierendes Reformparadigma, das als "sozialdemokratisch" oder "Dritter Weg" bezeichnet werden könnte und von Fachleuten der Solidarnosc vertreten wurde. Die Bezeichnung "sozialdemokratisch" mag ein wenig verwirrend sein, da sich die Nachfolgepartei der Kommunisten nach 1990 selbst als sozialdemokratisch stilisierte, während die Gruppen, an die ich denke, den Werten der westeuropäischen Sozialdemokratie verbunden waren und sowohl die Kommunisten als auch ihre Nachfolger entschieden bekämpften. Sie wollten eine gemischte Wirtschaftsform, verbunden mit Arbeiterselbstverwaltung und einem erheblichen Ausmaß an sozialem Schutz. Vgl. Tadeusz Kowalik, "Was für eine Zivilisation stellen die Polen dar?", in: Andrzej Morstin (Hg.). Individualismus und Kollektivismus, Warschau 1999 (in polnischer Sprache). Die Verhandlungen am Runden Tisch zielten denn auch eher in diese Richtung als auf die Reformen, die schließlich ergriffen wurden. Doch als Balcerowicz in der Regierung Mazowiecki die Verantwortung für das wirtschaftliche Reformpaket übernahm, ließ man die sozialdemokratischen Vorstellungen fallen und nahm statt dessen eine radikalere marktwirtschaftliche Haltung ein. Im öffentlichen Diskurs und in wissenschaftlichen Publikationen sank der "Dritte-Weg"-Ansatz später zur Bedeutungslosigkeit herab, weil seine Befürworter es nicht schafften, Denkfabriken, Forschungsinstitute oder Zeitschriften zu gründen, über die sie ihre Haltung hätten verbreiten können. Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, die den neoliberalen Auffassungen näherstehen, gründeten private Denkfabriken; zu den wichtigsten gehören das Center of Social and Economic Analysis (weithin bekannt unter der Abkürzung CASE), das Institut zur Erforschung der Marktwirtschaft, das Adam Smith-Zentrum und das Institut für Öffentliche Angelegenheiten. All diese Einrichtungen verbinden Theorie mit anwendungsorientierten Projekten. Das Feld behauptete somit, am sichtbarsten in den Medien, eine Spielart der neoliberalen Ideologie, wenngleich sie sowohl von Vertretern des "Dritten Weges" wie auch von populistisch-nationalistischen Positionen aus kritisiert worden ist. Zur Kritik "von links" siehe Kowalik, a.a.O., sowie Maciej Deniszczuk / Jozef Halbersztadt / Miroslawa Puchalska (Hg.), Polen vor neuen Problemen, Warschau 2000 (in polnischer Sprache). Für ein gutes Beispiel der Kritik "von rechts" siehe Kazimierz Poznanski, Der große Schwindel. Das Scheitern der polnischen Reformen, Warschau 2000 (in polnischer Sprache). Auf den Bestsellerlisten rangiert das Buch ganz vorn. Der Verfasser, Professor an der University of Washington in Seattle, wandte sich mit diesem Pamphlet auf polnisch an das polnische Publikum. Er sieht in der Privatisierung einen betrügerischen Ausverkauf polnischen Nationaleigentums an Ausländer zu zehn Prozent seines wahren Wertes; die Kontrolle über die polnische Wirtschaft werde damit äußeren Kräften überantwortet. Im Ton des Buches klingen rechte Positionen an, doch steht Poznanski eher dem postkommunistischen SLD nahe, und das eigentliche Ziel seiner Kritik ist die Freiheitsunion, deren Vorsitz eine Zeitlang der neoliberale Leszek Balcerowicz innehatte. Dass dieser Sieg sich weitgehend auf den Bereich der Rhetorik beschränkte, braucht nicht eigens gesagt zu werden, werden die politischen Entscheidungen doch weniger von ideologischen Erwägungen als vielmehr von der Einschätzung der politischen Lage bestimmt. Polen besitzt zwar einen pulsierenden privaten Sektor, doch der staatliche Anteil an der Wirtschaft ist nach wie vor hoch.
Dass man die neoliberale Haltung akzeptiert, heißt allerdings nicht, dass man alle Ergebnisse der Transformation begeistert unterstützt. Die sozialen Kosten der Transformation, vor allem die Arbeitslosigkeit und die Armut, sind zunehmend in den Blickpunkt geraten. Siehe zum Beispiel Stanislawa Golinowska (Hg.), Armut in Polen: Kriterien, Einschätzungen, Gegenmaßnahmen, Warschau 1996, überarbeitete Auflage 1997; Elzbieta Tarkowska (Hg.), Den Armen verstehen: Über die alte und neue Armut in Polen, Warschau 2000 (beide Titel in polnischer Sprache). Es fiel auf, dass das Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit nicht vermindert hat. Die Armut ist für die Ökonomen insofern von Belang, als sie Einfluss auf die Höhe der Sozialausgaben hat. Für die Soziologen sind Arbeitslosigkeit und Armut sowohl Symptome als auch Ursachen sozialer Ausschließung, die es Individuen und Gruppen verwehrt, an wichtigen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilzunehmen. Sollte sich so etwas wie eine Unterschicht herausbilden, könnte sie, so befürchtet man, eines Tages das politische System destabilisieren; andere sind der Überzeugung, dass sie bereits existiert und für die steigende Kriminalität und alle möglichen sozial unerwünschten Erscheinungen verantwortlich ist.
Armut und soziale Ausschließung sind nur Beispiele für Probleme, die derzeit in Polen öffentlich diskutiert werden. Man könnte noch etliche andere nennen, etwa die Schwäche des repräsentativen Systems, die mangelnde Kompetenz der politischen Klasse, die Korruption (im politischen wie im Verwaltungsbereich), die mangelnde Effizienz des staatlichen Apparats (insbesondere der Polizei und der Justiz) und die hohe Kriminalität. Man kann solche Listen vermutlich für die meisten hochentwickelten Länder aufstellen, doch wer darüber in Polen schreibt, ist überzeugt, dass sich hinter diesen Phänomenen hier möglicherweise etwas Tieferes verbirgt. In Polen, glaubt man, habe die Modernisierung bisher nur die Oberfläche betroffen. Sie beziehe sich mehr auf Muster des Konsumverhaltens als auf Strukturen der Produktion und der gesellschaftlichen Organisation, und eigentlich sei das Land noch weit entfernt vom Ziel seiner Wünsche: vom Westen. Da dies ein Resultat der jüngsten wie der ferneren Vergangenheit ist, müssen wir uns nun den historischen Determinanten zuwenden.
Geschichte: Ideen und soziale Strukturen
Die polnischen Lande waren, wie schon gesagt, in den letzten tausend Jahren unter dem Einfluss des Westens. Eingedenk der Gefahr, den Begriff "Polen" und vor allem den der "polnischen Nation" in die Vergangenheit zu projizieren, benutze ich als Kürzel den Ausdruck "polnische Lande", womit Gebiete beschrieben werden, die damals oder heute unter der Herrschaft dessen standen oder stehen, was als polnischer Staat gelten kann. Sie lagen zwar außerhalb der Grenzen des Römischen Reiches, doch übernahmen die polnischen Fürsten des Frühmittelalters das Christentum von Rom, zusammen mit einem so wichtigen Kommunikationsmittel wie der lateinischen Schrift. Im 12. Jahrhundert brachten mehrere Wellen von Siedlern die Dreifelderwirtschaft, Bautechniken und Rechtsinstitutionen - darunter vor allem die Regeln für die Gründung und Verwaltung von Städten und Dörfern - in die polnischen Fürstentümer. Die meisten Städte in den polnischen Landen waren ursprünglich deutsch, und erst allmählich polonisierten sich ihre Bewohner. Im Jahre 1364 wurde in Krakau die erste polnische Universität gegründet. Im 15. und 16. Jahrhundert wurden italienische Einflüsse bedeutsam, und junge polnische Edelleute zogen zum Studium nach Padua oder Bologna. Italienische Künstler kamen nach Krakau, wobei die Gemahlin von König Sigismund (Zygmunt) I., Bona Sforza, eine wichtige Rolle spielte. Im 17. und 18. Jahrhundert gewannen französische Kultureinflüsse die Oberhand, und für viele polnische Aristokraten wurde Französisch zur zweiten (wenn nicht zur ersten) Sprache.
Mit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert kam die Napoleonbegeisterung. Er selbst hinterließ in der polnischen Geschichte eine institutionelle Spur, denn er führte in dem, was nach den Teilungen noch vom polnischen Staat übrig war, eine Verfassung und den Code Civil ein. Der Code Napoléon ist bis heute die Grundlage des Zivilrechts. Zugleich wurde der Klassizismus zum beherrschenden Architekturstil, in weiten Teilen Warschaus bis heute erkennbar. Das ganze 19. Jahrhundert hindurch war Polen aufgeteilt unter Österreich, Preußen und Russland. Die beiden erstgenannten Mächte führten in ihrem Teil Polens verschiedene westliche Rechtsinstitutionen und Traditionen ein. Die Preußen suchten die polnische Bevölkerung zu germanisieren, was ihnen durch die Förderung des Schulunterrichts in deutscher Sprache weitgehend gelang. Bei aller Härte lehrte das politische System zugleich den Respekt vor dem Rechtsstaat. Unter den sehr viel liberaleren Verhältnissen des Habsburgerreiches konnten sich besonders nach 1867 polnische Hochschulen (Lemberg, Krakau) und moderne politische Parteien entfalten. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts brachte ferner die Industrialisierung (vor allem im russisch besetzten Teil) und mit ihr das Erlernen westlicher Techniken und Organisationsmuster. Trotz der wirtschaftlichen Rückständigkeit beschleunigte sich die Modernisierung erheblich, vor allem in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die Reaktionen der Intellektuellen reichten von Lob und Hoffnung bis zur Angst vor dem Verlust von Tradition und Identität.Siehe Jerzy Jedlicki, A Suburb of Europe: Nineteenth-century Polish Approaches to Western Civilization, Central European UP, Budapest 1999.
Am widersprüchlichsten war, was die westlichen Einflüsse angeht, die Zeit des Kommunismus. Natürlich wäre es absurd zu behaupten, der Kommunismus habe sich die Verwestlichung zum Ziel gesetzt, ganz im Gegenteil. Doch während er mit harten, repressiven Methoden ein undemokratisches System durchsetzte, verschob er das Staatsgebiet um mehrere hundert Kilometer nach Westen, unter Preisgabe des am wenigsten verwestlichten Teils des Landes. Und er führte in seinen Anfängen bedeutende gesellschaftliche Veränderungen herbei: Industrialisierung, Urbanisierung, Hebung des Bildungsniveaus und Abschaffung früherer Klassenschranken, wodurch Polen in mancher Hinsicht dem Modell der Industriegesellschaft ein wenig näherkam. Außerdem muss man sehen, dass die stalinistische Phase der nahezu vollständigen Abschottung relativ kurz war und die polnische Gesellschaft davor und danach enge Kontakte zum Westen pflegte, schon wegen der großen polnischen Auslandsgemeinschaften in den Vereinigten Staaten, in England und einigen anderen Ländern. Für die Polen war das Reisen, verglichen mit anderen Ländern des sowjetischen Blocks, seit den sechziger und besonders seit den siebziger Jahren eine verhältnismäßig einfache Angelegenheit. Auch Wissenschaftler konnten relativ ungehindert ins Ausland fahren. In den siebziger Jahren führte die importintensive Wirtschaftsstrategie Edward Giereks zu vermehrten Kontakten auf der Ebene der Unternehmensführungen.
Dem bisher Gesagten könnte man jedoch entgegenhalten, dass der Firnis der Verwestlichung während der ganzen Zeit ziemlich dünn war und andere Einflüsse und Kräfte die Gesellschaft stärker formten. Ausländische Beobachter pflegten seit langem zu vermerken, dass die polnischen Lande sich stark vom Westen unterscheiden. In der polnischen Historiographie ist dies gut dokumentiert durch Antoni Maczaks Bücher über die westlichen Reisenden des 16. und 17. Jahrhunderts. Antoni Maczak, Travel in Early Modern Europe, Cambridge 1995. Larry Wolff hat letzthin rekonstruiert, wie sich die Aufklärung die Welt als von dem binären Gegensatz zwischen "Zivilisation" und "Barbarei" bestimmt dachte. Larry Wolff, Inventing Eastern Europe: The Map of Civilization in the Mind of the Enlightenment, Stanford UP 1994. Die polnischen Lande galten zwar nicht als ganz und gar östlich und barbarisch, schienen aber für die westlichen Reisenden und Denker weit von der Zivilisation entfernt zu sein. Die Berichte dieser Reisenden sind voll von Klagen über den Mangel an Komfort und von wenig schmeichelhaften Beschreibungen von Dörfern, Städten und sogar der Hauptstadt Warschau. Sie halten fest, dass es an "Manieren", an "Kunst" und "Höflichkeit" mangele. Von einem kleinen Kreis des Hochadels abgesehen, finden sie den polnischen Adel ungehobelt, ungebildet und in sonderbare, östliche Kleider gewandet. Auf den Häuptern der polnischen Edelleute bemerken sie nicht nur einen exotischen Haarschnitt, sondern auch den sogenannten Weichselzopf in so zahlreichen Fällen, dass sie dieser Verfilzung des Haupthaars den Namen "plica polonica" gaben. Beobachtungen, die hundertfünfzig Jahre später, nach der Wiederauferstehung des polnischen Staates, gemacht wurden, zeugen selten von mehr Wohlwollen, so die Bemerkung von J. M. Keynes aus dem Jahre 1918, dass die einzige Industrie der polnischen Nation das Judenquälen sei. Zitiert nach Norman Davies, God's Playground: A History of Poland, Bd. II, Oxford 1981, S. 393. In den folgenden zwanzig Jahren änderte sich nicht viel. Der spätere deutsche Literaturkritiker Reich-Ranicki, der wegen seiner jüdisch-polnischen Herkunft 1939 aus Deutschland nach Polen vertrieben wurde, vermerkte erstaunt, unter welch ärmlichen und primitiven Verhältnissen die Bauern (allerdings im Osten) und die städtischen Arbeiter leben, so ganz anders als er es aus Deutschland kannte. Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, Stuttgart 1999.
Für diese westlichen Beobachtungen und Klagen gab es gute Gründe. Der zwischen dem 12. und 16. Jahrhundert entstandene städtische Sektor war nie stark, und anschließend wurde er durch Kriege und durch die Politik des polnischen Hochadels noch mehr geschwächt. Das Agrarsystem, das seit dem 16. Jahrhundert in weiten Teilen der polnischen Lande entstand, war gekennzeichnet von einem Entwicklungsmuster, das sehr stark von dem des Westens abwich. Weil die sozialen und politischen Verhältnisse den Ausbau der Leibeigenschaft begünstigten und im Westen eine starke Nachfrage nach Getreide bestand, begründete und entwickelte der polnische Adel ein Gutsherren-System, das auf Frondiensten beruhte. Das schränkte die Möglichkeiten einer selbständigen bäuerlichen Landwirtschaft ein, und indem es den Binnenmarkt schrumpfen ließ, untergrub es die Stellung der städtischen Bürgerschaft. Zugleich stärkte es die Stellung der adeligen Großgrundbesitzer, der "Magnaten". Nicht nur das Wirtschaftssystem, sondern auch die Sozialstruktur entwickelte sich also in eine andere Richtung als dies im kapitalistische Westen der Fall war. Die für den Aufstieg des Kapitalismus wichtigste Klasse, die städtische Bourgeoisie, konnte sich kaum entfalten. Siehe Witold Kula, An Economic Theory of Feudal System, London 1976; Jacek Kochanowicz, "The Polish Economy and the Evolution of Dependency," in: Daniel Chirot (Hg.), The Origins of Backwardness in Eastern Europe: Economics and Politics from the Middle Ages until the Early Twentieth Century, University of California Press 1989. Im 19. Jahrhundert zogen zwar die Industrialisierung und der Kapitalismus ein, aber nur partiell, und die Inseln der Modernität waren umgeben von einem bäuerlichen Meer. Der jüdische Charakter eines Teils der neuen Bourgeoisie gab später dem Antisemitismus Nahrung. Die Schwäche des Kapitalismus veranlasste den polnischen Staat in der Zwischenkriegszeit, eine massive staatliche Industrialisierung und Planung zu betreiben, teils aus Sicherheitsgründen, aber auch zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit während der Weltwirtschaftskrise.
Das politische System, das Polen in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert annahm, war ebenfalls weit entfernt von allen zeitgenössischen Modellen. Perry Anderson, Lineages to the Absolutist State, London 1979. Das Wahlkönigtum, die "Adelsrepublik", das berühmt-berüchtigte liberum veto - das alles brachte einen extrem schwachen Staat hervor, der dem Druck der benachbarten Mächte nicht standzuhalten vermochte und Ende des 18. Jahrhunderts schließlich zusammenbrach. Gleichzeitig führte dies zu einer enormen Stärkung der politischen Macht der Magnaten, die halb unabhängige Kleinststaaten zu schaffen vermochten. Der Sonderweg Polens wurde im 17. Jahrhundert durch die ausgesprochen fremdenfeindliche und antiwestliche Ideologie des Adels verstärkt. Nach der Unterbrechung durch die Teilungen (1795-1918) und der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1918 versuchte Polen demokratische Regierungsformen zu entwickeln, die sich als hochgradig dysfunktional erwiesen. Mit seinem Staatsstreich vom Mai 1926 bewirkte Marschall Pilsudski eine Wende zum Autoritarismus, die durch die Verfassung von 1935 nochmals verstärkt wurde. Man kann also sagen, dass sich vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Kommunismus weder das Wirtschaftssystem noch die sozialen Strukturen, noch das politische System gemäß dem (idealisierten) westlichen Muster entwickelten.
Die Ausdehnung des polnischen Staates nach Osten, die am Ende des 14. Jahrhunderts mit der Personalunion mit Litauen einsetzte, trug erheblich zu dem eigentümlichen Entwicklungsmuster bei, denn riesige Landschenkungen in den dünnbesiedelten neugewonnenen Territorien erleichterten den Aufstieg der Magnaten. Ins vereinigte Königreich Polen-Litauen wurden damit große Bevölkerungsgruppen aufgenommen, die mit westlichen Einflüssen - welcher Art auch immer - kulturell nichts anzufangen wussten. Während die oberen Schichten des Adels sich allmählich polonisierten, blieb die bäuerliche Bevölkerung ihrer ethnischen Herkunft treu, und da sie größtenteils nicht zum Katholizismus übertrat, hielt sie entweder an der orthodoxen Religion fest oder schloss sich der unierten Kirche an. Die ethnisch gemischte Sozialstruktur, die sich dort vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts herausbildete, umfasste die angestammte Bauernschaft, polnische Grundherren und Städte mit einer zahlreichen jüdischen Bevölkerung sowie einer polnischen Bürgerschicht. Im 19. Jahrhundert gerieten diese Territorien überwiegend unter russische Herrschaft, so dass die zuvor eingeleitete Polonisierung und Verwestlichung erheblich zurückging. Im ukrainischen Teil wuchs die Kluft zwischen der angestammten Bauernschaft und dem polnischen Adel, als dieser sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den günstigen Absatzmöglichkeiten für Getreide bereicherte. Daniel Bauvois, La bataille de la terre en Ukraine: 1863-1914: Les Polonais et les conflits socio-ethniques, Presses universitaires de Lille 1993. Die Kresy (wörtlich die Grenzlande), wie man diese Territorien später nannte, fielen, wenn auch nicht im vollen Umfang wie zu Zeiten des vereinigten Königreichs, nach dem polnisch-sowjetischen Krieg von 1920 wieder an den polnischen Staat, und sie blieben bis zum Zweiten Weltkrieg ein Teil des Landes. Der wiedererstandene polnische Staat versuchte diese Gebiete zu polonisieren, indem er das polnischsprachige Schulwesen förderte, die polnischen Elemente in der staatlichen Verwaltung unterstützte und ehemaligen polnischen Soldaten bei der Ansiedlung als Bauern Hilfe gewährte. Da der autoritäre Staat bei der Umsetzung dieser Programme allzuoft rücksichtslos vorging, wuchsen sich die ethnischen Spannungen besonders im Gebiet der Westukraine zu einem scharfen Konflikt aus.
Wie zahlreiche Schriften von Czeslaw Milosz oder Tadeusz Konwicki belegen, waren die Kresy wichtig für die Ausbildung der polnischen Identität. Siehe insbesondere Czeslaw Milosz, Native Realm: A Search for Self-definition, Garden City, N.Y. 1968. Durch die Abkommen von Jalta und Potsdam gingen sie dem polnischen Staat verloren. Die polnische Präsenz dort wurde von westlichen Regierungen ohnehin nie sonderlich unterstützt; das belegt die 1918 von Lord Curzon vorgeschlagene Ostgrenze Polens ebenso wie die westliche Haltung während des Zweiten Weltkriegs. Auch wenn sie verlorengingen, war doch das kulturelle Erbe der Kresy für Nachkriegspolen in mehr als einer Hinsicht bedeutsam. Die polnische Bevölkerung verließ diese Territorien in großer Zahl und kam in das mittlerweile innerhalb neuer Grenzen geschaffene Polen, wobei sie die eigenen Traditionen und Einstellungen mitbrachte. Krystyna Kersten, Die Repatriierung der polnischen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg, Wroclaw 1974 (in polnischer Sprache). Für viele Angehörige der polnischen Intelligenz, die ihre Wurzeln im Osten hatten, blieben die Erinnerungen an das Land der Kindheit und Jugendzeit bedeutsam. Viele von ihnen könnten mit Milosz sagen: "Ich wurde im Herzen Litauens geboren, und ich könnte sogar mit größerem Recht als mein großer Patron Adam Mickiewicz 'Litauen, mein Vaterland' sagen." Czeslaw Milosz, "An die litauischen Freunde" (Vortrag auf einer Konferenz, die im Oktober 2000 vom Goethe-Institut in Vilnius veranstaltet wurde, in: Gazeta Wyborcza, 10. Oktober 2000. "Litauen, mein Vaterland..." lautet die Anrufung, mit der Adam Mickiewicz' Pan Tadeusz beginnt, jene Dichtung, die wohl am stärksten zur Ausbildung des polnischen Nationalbewusstseins beigetragen hat. Schulkinder lernen Teile daraus auswendig, und die Verfilmung durch Andrzej Wajda war in Polen ein Kassenschlager. In Andrzej Wajdas Film Chronik einiger Liebesunfälle nach dem Roman von Tadeusz Konwicki ist die Sehnsucht nach dem verlorenen Wilna (heute Vilnius) deutlich zu spüren. Zwei polnische Nachkriegsuniversitäten, Thorn und Breslau, haben sich denn auch die Traditionen der Universitäten Wilna und Lemberg (heute L'viv) ausdrücklich zu eigen gemacht.
Im 19. Jahrhundert dehnte sich der Einfluss Russlands weit über die ethnisch gemischten Kresy hinaus nach Westen aus. Russland herrschte auch über das vom Wiener Kongress geschaffene Königreich Polen (1815-1918), das schon deshalb den zentralen Teil Polens darstellte, weil hier seine Hauptstadt Warschau lag. Während mehr als hundert Jahren, die für Westeuropa hinsichtlich der Herausbildung moderner politischer Ideen und Institutionen von größter Bedeutung waren, kamen westliche Einflüsse in diesem Herzstück der polnischen Lande nur in radikal verkürzter Form zur Geltung.
Es ist sehr schwierig, die westlichen und östlichen Einflüsse zu bilanzieren, da es uns an klaren und eindeutigen Einheiten fehlt, in denen wir einzelne Faktoren messen könnten. Im Hinblick auf solche historischen Hinterlassenschaften sagt Krzysztof Zanussi, ein namhafter Filmregisseur, der seine westlichen, italienischen Wurzeln betont, über die Mentalität der polnischen Intelligenz: "Es gibt unter uns ein Verlangen, viele byzantinische Verhaltensmuster zu übernehmen. Muster, die einer anderen Tradition, einer anderen Geschichte entstammen, einer Tradition, die weder von Canossa noch von der Renaissance weiß. Ich fürchte, wir könnten plötzlich erstaunt feststellen, dass wir sehr viel weiter im Osten sind, als wir geglaubt haben." Krzysztof Zanussi, "Das Polnische ist anders", in: Gazeta Wyborcza, 3. Oktober 2000.
Es ist ebenfalls schwer, genau anzugeben, inwiefern und in welchem Maße diese verschiedenen historischen Hinterlassenschaften zu den gegenwärtigen Verhaltensmustern der polnischen Gesellschaft und vor allem zu den Erfolgen und Fehlschlägen der laufenden Transformation und Modernisierung beitragen. Man kann jedoch, wie ich es an anderer Stelle getan habe, plausibel darlegen, dass der polnische Erfolg weitgehend der räumlichen, historischen und kulturellen Nähe zum Westen zuzuschreiben ist. Jacek Kochanowicz, "Trajectories of Post-Communist Transformation: Global Influence and Local Legacies", in: W. Baer / J. L. Love (Hg.), Liberalisation and its Consequences: A Comparative Perspective on Latin America and Eastern Europe, Cheltenham, UK 2000. Der Kapitalismus war schließlich eine westeuropäische Erfindung. Siehe die Argumentation von E. L. Jones, The European Miracle: Environments, Economies and Geopolitics in the History of Europe and Asia, Cambridge UP 1981. Er ist tief eingebettet in die europäische Kultur, und es ist nicht verwunderlich, dass die Transformation zum Kapitalismus um so leichter fällt, je verwandter die kulturellen Verhältnisse sind. Das heißt nicht, dass keine andere Tradition als die europäische zum Kapitalismus führte. Man kann ebenfalls zeigen, dass die Hindernisse für eine Transformation zum großen Teil, wenn auch nicht vollständig, auf bestimmte historische Gründe zurückzuführen sind. Meines Wissens gibt es keine systematische Untersuchung der regionalen Verteilung des polnischen Transformationsprozesses, wie sie Putnam mit dem Versuch unternommen hat, das jeweils vorhandene "soziale Kapital" oder verwandte Begriffe explizit mit dem einen oder anderen Erfolgsmaß in Beziehung zu setzen. Schon ein flüchtiger Blick etwa auf die regionale Verteilung der Arbeitslosigkeit zeigt jedoch einen hohen Prozentsatz einerseits im Osten des Landes und andererseits in jenen westlichen Gebieten, deren Bevölkerung aus den rückständigeren, am wenigsten unternehmerischen Ostgebieten Vorkriegspolens (den Kresy) stammt.
Integration als Modernisierung
Wie auch immer es sich mit den historischen Faktoren und Entwicklungen verhalten mag - auf der politischen Tagesordnung Polens steht heute die Integration in die Europäische Union. Das genaue Datum ist noch nicht festgelegt, da die Öffentlichkeit und die Regierungen Westeuropas dem Erweiterungsprozess offenbar mit gemischten Gefühlen entgegensehen. Ungeachtet der verborgenen Emotionen bekräftigen die führenden Politiker Westeuropas jedoch ihre Entschlossenheit, sich für die künftige Mitgliedschaft Polens in der Union einzusetzen.
In einem gewissen Sinne vollzieht sich die Integration bereits. Der polnische Außenhandel hat sich in den letzten zehn Jahren von Ost nach West umorientiert, die Grenzen sind offen für Reisen (wenn auch nicht für die Wanderung von Arbeitskräften, zumindest nicht die legale), und zahlreiche westliche Unternehmen investieren in Polen. Wichtig ist jedoch die formale Integration. Sie würde zum weiteren Abbau von Handelshemmnissen führen, Mittel aus dem Strukturfonds ins Land fließen lassen, Hilfe für die Landwirtschaft bedeuten und künftig auch Mobilität von Arbeitskräften über die innereuropäischen Grenzen hinweg bedeuten. Ebenso wichtig ist die symbolische Bedeutung. Die Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union würde bestätigen, dass Polen und die Polen zum Westen gehören.
Dass die Einstellungen im Westen, gelinde gesagt, gemischt sind, ist nicht erstaunlich. Zumindest anfangs würde Polen, was die Geldströme angeht, eher Kosten als Gewinne bringen. Es gibt auch (vermutlich übertriebene) Ängste vor Importen polnischer Agrar- und Textilerzeugnisse und vor den Möglichkeiten des Zustroms billiger polnischer Arbeitskräfte auf Arbeitsmärkte, die schon unter hoher Arbeitslosigkeit ächzen. Die Union hat außerdem etliche interne Probleme, von der strategischen Frage, wo die Priorität liegen soll: bei der "Vertiefung" oder der "Erweiterung", über die Schwäche des Euro bis hin zu den Korruptionsskandalen in der Europäischen Kommission. Obendrein geht von einigen Rechtsparteien ein gegen die Erweiterung gerichteter Druck aus. Den Hauptgrund, Polen nach Europa hereinzuholen, bildet, wie Marcin Krol treffend bemerkt hat, ein Versprechen, das Europa gegeben hat und von dem es schwerlich abrücken kann. Marcin Krol, "Am Rande Europas", in: Transit 20 (2000). Ein Polen wohlgesonnener Beobachter, der französische Journalist Jean Quatermer, hat kürzlich festgestellt, dass "die Europäische Union Polen nicht mehr liebt" und dass "Polen sich der Welt in den letzten Jahren als ein rückständiges, von einem reaktionären Klerus dominiertes Land darstellt und politisch zwischen seinen einstigen kommunistischen Herren und der konservativsten Rechten schwankt." Jean Quatermer, "Die Union liebt Polen nicht mehr", in: Polityka, 16. September 2000, S. 34.
Auch in Polen sind die Meinungen nicht ungeteilt. Nach außen hin messen die Führungen der meisten Parteien dem Beitritt zur Europäischen Union einen hohen Stellenwert zu. Bei der letzten Präsidentenwahl hat nur einer von mehreren Kandidaten, Jan Lopuszanski, die Ablehnung der Unionsmitgliedschaft zu einem zentralen Programmpunkt erhoben. Er erhielt jedoch weniger als ein Prozent der Stimmen. Innerlich gibt es Zweifel und Zerrissenheit. Dabei geht es weniger um die Anerkennung oder Ablehnung "des Westens" als vielmehr darum, wie der Westen zu interpretieren ist. Die Ansicht, die polnische Kultur sei etwas Besonderes und Einzigartiges und Polen habe so etwas wie eine spezielle Sendung, wird heute nicht mehr vertreten. Das war bis zu einem gewissen Grad der Fall in der messianischen polnischen Romantik des 19. Jahrhunderts, die behauptete, Polen sei ein "Christus der Völker", dessen Leid unter der Fremdherrschaft und im Verlauf der Aufstände der Preis war, der für die künftige umfassende Freiheit aller Völker zu entrichten war. Seit der Niederlage des Aufstands von 1863 trat der Romantik die pragmatische Strömung der liberal orientierten "organischen Arbeit" entgegen, die unter den gegebenen Verhältnissen die materielle und moralische Lage der Gesellschaft zu verbessern suchte. (Vgl. Maciej Janowski, Polnisches liberales Denken vor 1918, Krakau 1998, poln.). Bis heute bestimmen die Spannungen zwischen diesen polnischen Traditionssträngen die geistige und politische Kultur, doch wird man schwerlich sagen können, dass der romantische Strang sich durchsetzt. Auch scheint es außer Zweifel zu stehen, dass Polen zu Europa gehört, aber über "das Wesen" Europas gehen die Meinungen auseinander. Die religiöse Rechte sieht es vor allem in zwei Jahrtausenden christlicher Religion und der Weltkirche. Darin liegt die Auflösung eines scheinbaren, mit dem polnischen Papst zusammenhängenden Widerspruchs. Die einem Kult nahekommende Verehrung der Polen für Johannes Paul II. wird im Westen vielfach als ein Zeichen von Engstirnigkeit und Obskurantismus verstanden. Für die religiöse Rechte in Polen ist die katholische Kirche jedoch Inbegriff und sichtbarstes Zeichen einer zwei Jahrtausende umspannenden europäischen Kultur. Für die Liberalen verkörpert Europa vor allem individuelle Freiheit und Demokratie. Die Sozialdemokraten stellen soziale Rechte und den gesellschaftlichen Zusammenhalt in den Vordergrund, scheinen aber die Probleme zu verstehen, die der europäische Wohlfahrtsstaat hervorruft. Viele von ihnen würden dem Diktum von Tony Blair und Gerhard Schröder "Marktwirtschaft ja, Marktgesellschaft nein" zustimmen, was immer das heißen mag. Im gesamten politischen Spektrum scheint man mehr oder weniger besorgt zu sein, dass Globalisierung und Integration ein gewisses Problem schaffen, wenn nicht für die nationale Identität, so doch für die lokale Eigenart. Das erklärt möglicherweise den Publikumserfolg aktueller Verfilmungen der nationalen Klassiker Pan Tadeusz (Herr Tadeusz, von Adam Mickiewicz) und Ogniem i Mieczem (Mit Feuer und Schwert, von Henryk Sienkiewicz), mag letztere auch arg an Hollywood erinnern.
Zu den ideologischen Differenzen kommt die Wahrnehmung möglicher praktischer Auswirkungen der europäischen Einigung auf die Interessen bestimmter sozialer Gruppen. Da sind beispielsweise die Ressentiments der rechten, nationalistischen und religiösen Parteien und Bewegungen. Wichtig ist, neben der ZChN (Christlich-Nationalen Union), der von Pater Tadeusz Rydzyk begründete katholische Sender Radio Maryja. Er ist nationalistisch und streift immer wieder den Antisemitismus. Mit einer Mischung aus Gottesdiensten, Kommentaren und Gesprächen mit den Hörern fand er enormen Anklang bei vielen Katholiken mit geringem Bildungsniveau, die sich in einer Welt, die sich rasch wandelt, offenbar schwer zurechtfinden. Ihnen vermochte Radio Maryja ein Gefühl der Gemeinschaft und der Verbundenheit zu vermitteln, das in der vom Sender verbreiteten Vorstellung einer Rodzina Radia Maryja (Die Familie von Radio Maryja) gut zum Ausdruck kommt. Die Beziehungen zwischen diesem Sender und der Amtskirche scheinen nicht frei von Spannungen zu sein. Sie fürchten die Einigung, die sie als Bedrohung der nationalen Identität und der Religion wahrnehmen. Sie betrachten Westeuropa als säkular und daher gefährlich für das katholische Polen. Es ist jedoch zu beachten, dass unter katholischen Laien mit niedrigem Bildungsgrad zwar viele die Einigung fürchten, der Klerus aber, der generell gegen den Liberalismus ist und anfangs der Europäischen Union misstraute, mehr und mehr den geplanten Unionsbeitritt zu unterstützen scheint. Bei den polnischen Bauern, die sich schon jetzt gegen den Import subventionierter westlicher Nahrungsmittel wehren und Schutzzölle fordern, herrscht allgemein Besorgnis wegen der Einigung. Inzwischen stehen die Führer der größten Bauernpartei der Integration jedoch wohlwollend gegenüber und verweisen auf die Möglichkeiten der Unterstützungsfonds.
Eine völlig andere Haltung nehmen die polnischen Neoliberalen ein. Natürlich haben sie nichts gegen die Einigung, doch zugleich sind sie gegenüber Westeuropa sehr kritisch, aus völlig anderen Gründen als die nationalistischen und traditionalistischen Parteien. Das Problem Westeuropas sehen sie in seiner übertriebenen Regulierung und "Sozialisierung" sowie in der aufgeblasenen Brüsseler Bürokratie. Das erstaunt nicht, ist das ideale Modell der Neoliberalen doch nicht der europäische, sondern der angelsächsische Kapitalismus mit wenig Subventionen, wenig staatlicher Intervention, minimalem Wohlfahrtsstaat und deregulierten Arbeitsmärkten. Sie führen die meisten schmerzhaften Probleme Westeuropas - darunter vor allem die Arbeitslosigkeit - auf eine zu weitgehende Regulierung des Arbeitsmarktes und zu hohe staatliche Sozialausgaben zurück. Sie vergleichen Europa gern mit den Vereinigten Staaten, die einen sehr viel freieren Arbeitsmarkt haben - und sehr viel weniger Probleme mit der Arbeitslosigkeit. Man kann sogar sagen, dass Polen in seinen jüngsten Entwicklungen in mannigfacher Hinsicht diesem Modell zu folgen scheint, besonders im kleinbetrieblichen Sektor, wo es keine Gewerkschaften gibt, die Löhne niedrig und die Arbeitszeiten lang sind.
Die Neoliberalen befürworten die Einigung offenbar aus praktischen Überlegungen. Da Polen auf dieser Seite des Atlantiks liegt und nicht der Nafta beitreten kann, ist die Zugehörigkeit zur Europäischen Union die zweitbeste Option. Die Integration gilt als einzige vernünftige Alternative zur Isolation und Marginalisierung Polens. Sorge bereitet den Neoliberalen die relative Schwäche der modernisierungsfreundlichen Kräfte in Polen, die sie hauptsächlich der historischen Hinterlassenschaft des Kommunismus und, paradoxerweise, der Solidarnosc mit ihren arbeiter- und gewerkschaftsfreundlichen Einstellungen zuschreiben. Da die Geschichte keine lebensfähige, starke unternehmerische Mittelschicht hervorgebracht hat, die für Marktreformen kämpfen würde, begrüßt man, als Voraussetzung künftiger Veränderung und Modernisierung, einen gewissen Druck von außen. Man erwartet, dass die Bedingungen und Maßstäbe, die von der Union - trotz all ihrer eigenen Probleme - sowohl im Zuge der Vorbereitungen zur Einigung als auch danach gesetzt werden, den fehlenden Modernisierungsdruck von innen ersetzen werden.
Schlussfolgerungen
Die Debatte über die historischen Regionen Europas ist faszinierend, knüpft sie doch an Fragen an, die für die Sozialwissenschaften heute von hoher Bedeutung sind. Wird die aktuelle Geschichte der postkommunistischen Länder vornehmlich von ihrer kommunistischen Vergangenheit oder von der weiter zurückliegenden Geschichte beeinflusst? Wenn von der letzteren, was zählt dann am meisten: Kultur und Religion? Die Wirtschaft? Gesellschaftliche Strukturen? Politische Regime? Allgemeiner gefragt: Ist die Transformation pfadabhängig, eine Auffassung, die von vielen Historikern und einigen Soziologen vertreten wird, oder hängt sie hauptsächlich von den Fähigkeiten und Ideen der Reformer ab, vielleicht modifiziert durch Kräfte der "politischen Ökonomie", wie manche Ökonomen meinen? Oder gibt es vielleicht gar keine Regelhaftigkeit, und alles ist nur Zufall, Kontingenz und Koinzidenz, Glück oder Pech? Zugleich ist diese Debatte aus mindestens drei Gründen ein intellektuelles Ärgernis. Erstens: Falls es Theorien gibt, die es erlauben würden, Gesellschaften in bestimmte Typen einzuordnen, so sind sie wirr und verschwommen, und es fällt schwer, sie zu operationalisieren und einer empirischen Prüfung zugänglich zu machen. Es gibt Versuche, die Bedeutung des kulturellen Erbes statistisch zu messen. Vgl. M. Steven Fish, "The Determinants of Economic Reform in the Post-Communist World", in: East European Politics and Societies, 12/1, Winter 1998, S. 31-70. In seinen Regressionsberechnungen weist der Verfasser einzelnen Ländern entsprechend dem Religionstypus Punktwerte zu; 0 für nichtchristlich, 1 für orthodox und 2 für katholisch bzw. protestantisch. Die Argumentation seines Aufsatzes ist insgesamt überzeugend, doch die Skala ist willkürlich. Zweitens hängt die Einordnung weitgehend von den politischen Präferenzen der Autoren ab, besonders derer, die aus der Region stammen. Einem mythologisierten Osten und Westen werden negative beziehungsweise positive Konnotationen verliehen. In der Regel geht es darum zu zeigen, dass das eigene Land nicht ganz so östlich ist, wie es auf den ersten Blick scheinen könnte. Drittens besteht eine fast unwiderstehliche Neigung, die Gesellschaften bei jeder Änderung der aktuellen Lage neu einzuordnen, womit das ganze Vorhaben, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu erklären, zirkulär wird. Doch gerade wegen ihrer emotionalen Seiten und wegen ihres methodologischen Status, der sie zwischen den empirischen Sozialwissenschaften und der literarischen Reflexion ansiedelt, wird die Debatte über die innereuropäischen Grenzen niemals enden.
Unter Berücksichtigung des oben Gesagten ist es natürlich schwer - sofern es überhaupt einen Sinn hat -, im Falle Polens zu bestimmen, wo die Grenze zwischen Ost- und Westeuropa (oder zwischen Mittelosteuropa und Osteuropa) verläuft. Legt man das Ergebnis der Transformation zugrunde, rückt Polen näher an den Westen. Auch wenn man das römische Christentum zugrunde legt, muss ganz Polen in seinen heutigen Grenzen Mittelosteuropa zugerechnet werden. Legt man jedoch den "byzantinischen" Faktor zugrunde, müsste ein erheblicher Teil Polens - das, was bis 1914 russisches Teilungsgebiet war - dem Osten zugeschlagen werden. Überdies würde der Status wesentlicher Teile des heutigen westlichen Polen zweifelhaft, da es in hohem Maße Menschen aus dem Osten sind, die in diesen Regionen leben. Historisch könnten demnach allein das ehemalige österreichische Teilungsgebiet und das ehemalige preußische Teilungsgebiet begründeten Anspruch darauf erheben, zu Mittelosteuropa zu gehören. Nimmt man die Sozialstruktur, geht die Verwestlichung ganz Polens nicht sehr tief. Die Mittelschicht (gern wüsste man, wieviele dazu gehören) ist schwach. Der Anteil der Universitätsabsolventen ist gering. Die Kenntnis des Englischen, einer der Schlüssel zur globalen Welt, ist begrenzt. Zugleich ist der ländliche Sektor der Gesellschaft noch immer sehr groß - 30 % der Bevölkerung leben in ländlichen Gebieten, fast 20 % sind in der Landwirtschaft tätig, überwiegend in kleinen Familienbetrieben. So gesehen ist Polen trotz der Veränderungen der letzten fünfzig Jahre - und der letzten zehn Jahre - noch immer keine richtige Industriegesellschaft, von einer postindustriellen Gesellschaft gar nicht zu reden. In Zukunft werden die Kräfte der Globalisierung im wirtschaftlichen wie im kulturellen Sinne weiter zur Verwestlichung der polnischen Gesellschaft beitragen. Doch die spezifischen "östlichen" Hinterlassenschaften werden gleichfalls an der Ausformung des polnischen Kapitalismus beteiligt bleiben, zumindest in absehbarer Zukunft.