Bernd Greiner
Mittelweg 36
Mittelweg 36
2000-11-28
You'll never walk alone
Amerikanische Reaktionen auf Kriegsverbrechen in Vietnam
Ein Massaker an vietnamesischen Zivilisten, das im März 1968 durch amerikanische Soldaten in My Lai verübt wurde, beschäftigte die amerikanische Öffentlichkeit über Monate hinweg. Ausgelöst wurden die Diskussionen durch die schockierenden Aufnahmen eines Armeefotografen. Die Diskussionen über die Bilder, die Reaktionen der Politiker, der Militärs und der Verantwortlichen, warf die Frage auf, inwieweit eine Gesellschaft für das Verhalten ihrer Soldaten verantwortlich gemacht werden kann, und inwieweit das Fehlverhalten von einzelnen Soldaten durch die Armee "kollektiv" moralisch abgesichert wurde. Die jüngsten Enthüllungen über die Folterbilder aus dem Abu-Ghraib Gefängnis in Irak zeigen, wie aktuell die Debatte um Kriegsverbrechen und die Amoralität des Krieges bleibt.
"Yesterday you stripped me of all my honor. Please, by your actions that you take here today, don't strip future soldiers of their honor."- "You did not strip him of his honor. What he did stripped him of his honor. It never can be honor to kill unarmed men, women and children."
(Leutnant William Calley und Ankläger Aubrey M. Daniel in ihren Schlußplädoyers vor den Geschworenen, zitiert nach "The Clamor Over Calley", in: Time, 12. April 1971, S.14)
Das Publikum verharrte wie in einer Schockstarre gelähmt. Walter Cronkite, Nachrichtenmoderator mit den höchsten Einschaltquoten und Symbol des amerikanischen "mainstream", hatte an einem Novemberabend 1969 einen Bericht von CBS als möglicherweise "jugendgefährdend" angekündigt. Kurz darauf wurden Großaufnahmen, einige ausschnittsvergrößert, eingeblendet - Berge von Leichen, gefolterte, verstümmelte Körper, zugerichtet von amerikanischen Soldaten, Angehörigen der "Charlie Company", "Task Force Barker", 11. Brigade der Division "Americal". Ein Armeefotograf, Ron Haeberle, hatte die Soldaten am 16. März 1968 bei ihrem "search and destroy"-Einsatz in einem südvietnamesischen Küstendorf begleitet und festgehalten, wie sie binnen weniger Stunden über 400 Zivilisten mordeten, Tiere abschlachteten, Brunnen vergifteten, Häuser und Vorräte in Brand steckten. Haeberle bewegte sich wie ein Dokumentarfilmer und lieferte Aufnahmen, die später der "Criminal Investigation Division" der Armee bei der Rekonstruktion der Tat entscheidend weiterhalfen. Sie gaben sogar darüber Auskunft, welche Wege einzelne Verdächtige im Laufe des Vormittags zurückgelegt hatten und wie es mithin um ihre Alibis bestellt war. Und man sah die Augen der Täter, in denen sich Erschrecken ebenso wie Lust spiegelten, wurde ihrer Körpersprache gewahr, konnte sie beobachten, wie sie gegen Mittag wenige Meter von ihren Opfern entfernt im Gras ihre Lunchpakete verzehrten. Er sei bis ins Mark erschüttert gewesen, sagt der Historiker Stephen Ambrose, ratlos vor der Frage, wieso amerikanische Jungs, "Pfadfinder", sich wie Nazi-Killer hatten aufführen können.Vgl. Bernd Greiner, "'A Licence to Kill'. Annäherungen an die Kriegsverbrechen von My Lai", in: Mittelweg 36, 6, 1998, S.4-25; James S. Olson, Randy Roberts, My Lai. A Brief History with Documents, Boston, New York 1998; "Song My Details and Photos Shock, Sicken Congressmen", in: The New York Times, 27. November 1969; David L. Anderson (Hrsg.), Facing My Lai. Moving Beyond the Massacre, Lawrence, Ka. 1998, S.31, 37 ff., 116.
18 Monate lang war der Massenmord von My Lai vertuscht worden. Was danach geschah, erscheint im Rückblick wie ein für historische Lehrbücher inszeniertes Stück. Meinungsforscher gehen davon aus, daß von Pearl Harbor abgesehen kein anderes Ereignis im 20. Jahrhundert die amerikanische Öffentlichkeit derart beschäftigte. Während des Prozesses gegen den Hauptangeklagten William Calley gaben zum Beispiel 91 Prozent der Befragten an, daß sie das Geschehen aufmerksam verfolgten - ein auf den ersten Blick unglaublich anmutender Wert, der freilich plausibel erscheint, wenn wir My Lai als den Schlußstein in einer von exzessiver Gewalt geprägten Dekade begreifen. Die Morde an den Kennedys, an Martin Luther King, an Malcolm X, die brennenden Ghettos der Großstädte, schließlich die Bilder aus Vietnam: Innerhalb weniger Jahre wurde das Selbstbild Amerikas als einer "redeemer nation", von Gott zum Vorbild im Kampf um Erlösung ausersehen, in Frage gestellt, wenn nicht dementiert. Und das aufklärerische Pathos, mit dem Ikonen der 60er Jahre wie Louis Hartz, Daniel Boorstin oder Dr. Spook gute Erziehung als im Kampf gegen Kriminalität und Gewalt unfehlbares Gegenmittel priesen, klang hohl. "In unserer Geschichte gibt es eine Unmenge von Illusionen", schrieb Reinhold Niebuhr. "Jetzt stehen sie kurz vor ihrer Auflösung." Selten, wenn überhaupt, stellen sich kriegführende Mächte der kritischen Selbstprüfung. Um so erstaunlicher, daß ausgerechnet die amerikanische Gesellschaft, die traditionell und erst recht im Gefolge des Zweiten Weltkriegs ihre Kriege als moralisch vorbildliche "good wars" adelte, diese Herausforderung annahm. Warum sie das tat, welche Akteure auftraten und was daraus wurde, können wir im Übergang von den 60er zu den 70er Jahren wie unter einem Brennglas beobachten. Wir werden Zeugen, wie binnen weniger Monate die Aufdeckung eines Massenmords zum öffentlichen Skandal wird und wie die Skandalisierung der Öffentlichkeit ihrerseits den Boden für eine neuerliche Abwendung von dem Geschehen bereitet.Reinhold Niebuhr, zit. n. Time, 5. Dezember 1969, S. 27. Vgl. "Who Shares the Guilt?", in: Time, 12. April 1971, S.15-21; Tom Engelhardt, The End of Victory Culture. Cold War America and the Disillusioning of Generation, New York 1995, S. 217 ff., 223 ff.; Michael Bilton, Kevin Sim, Four Hours in My Lai, New York 1992, S.12, 23, 43 ff., 282 ff.; Seymour M.Hersh, My Lai 4. A Report on the Massacre and Its Aftermath, New York 1970, S.141.Ein "Fenster der Gelegenheit" Empirische Untersuchungen über die Rezeption von Ron Haeberles Bildern bestätigen den klassischen Befund, wonach Fotos situativ eindringlicher und auf längere Sicht nachhaltiger als andere Medien wirken. Trotzdem reicht der Hinweis auf die "Macht der Bilder" nicht aus, um das Besondere jenes Winters 1969 zu verstehen. Erschütternde Dokumente hatte man in den Jahren zuvor auch gesehen. Im August 1965 zum Beispiel, als CBS einen Film über den von GIs an Zivilisten verübten Terror zeigte. Oder 1968, als Haeberle nach der Entlassung aus der Armee seine Aufnahmen zu Diavorträgen zusammenstellte und mehrfach in Volkshochschulen oder Lions Clubs zeigte. In allen Fällen gab es praktisch keine öffentliche Reaktion, von der üblichen Einrede abgesehen, die Bilder entstammten der Fälscherwerkstatt des Vietcong. Erst im November 1969 war die Zeit gekommen - als die sieggewohnte US-Army nach der Tet-Offensive des Vietcong an ihre militärischen Grenzen stieß und im Grunde mit einer "no-win-situation" konfrontiert war, als die Opposition gegen den Krieg vom radikalen Rand des politischen Spektrums auf die Mitte und sogar auf die Elite übergriff, als Titelbilder von "Time" und "Newsweek" von der Hilflosigkeit amerikanischer Soldaten kündeten, als die Zahl der Gefallenen sich der magischen Größe von 50 000 zu nähern begann, die bereits in Korea das Maß des noch Zumutbaren markiert hatte. Vor allem aber kamen Ende 1969 drei Umstände zusammen, jeder für sich und in ihrer synergetischen Dynamik erst recht überraschend.Vgl. Kenrick S. Thompson, Alfred C. Clarke, Simon Dinitz, "Reactions to My-Lai: A Visual-Verbal Comparison", in: Sociology and Social Research, 58, 2, 1974, S.122-130; Bilton, Sim, Four Hours, S.241 ff., 248 ff.
Erstens schlug die Presse einen neuen Kurs ein. Bis dahin hatten die Leser zwischen der Regierung treuen oder ergebenen Blättern wählen können und waren von Journalisten bedient worden, die sich an der Berichterstattung des Zweiten Weltkriegs mit ihren heroischen Erfolgsgeschichten orientierten. Zeitungen wie das "Wall Street Journal" oder die "Chicago Tribune" blieben fast bis zum Ende des Kriegs bei dieser Linie. Die Mehrheit der Herausgeber jedoch hielt inne, nachdem der bis dahin unbedeutende "Dispatch News Service" seine Meldung über My Lai vertrieben und in Europa Aufsehen erregt hatte. Allein am 12. November griffen 30 große US-Zeitungen die Nachricht auf. Die "New York Times" gab eigene Recherchen am Tatort in Auftrag, die "Washington Post" mutmaßte, wohl unter dem Eindruck von Korrespondenten, die erstmals Abnehmer für kritische Berichte über das Verhalten von GIs fanden, daß My Lai kein Einzelfall sei. Und "Time" eröffnete eine Diskussion, wie man sie bis dahin nur von der radikalen Linken kannte: Leistete die in Vietnam verfolgte Militärstrategie dem Massenmord an Zivilisten Vorschub? Inwieweit kann eine Gesellschaft für das Verhalten ihrer Soldaten verantwortlich gemacht werden? Hatte man es in den USA mit einer moralisch abgestumpften Bevölkerung zu tun? War Gewalt, wie Rap Brown in einem fort behauptete, so amerikanisch wie das Sternenbanner? Forderte die seit Ende der 30er Jahre betriebene materielle wie mentale Aufrüstung der Gesellschaft jetzt ihren Preis? "Über die Antworten mag man streiten", schrieb "Time", "nicht aber über die Fragen". Es klang wie das Echo von Richter Robert Jackson, der anläßlich der Nürnberger Prozesse angemahnt hatte, sich selbst an den ethischen Prinzipien zu messen, die man gegenüber den Nazis geltend machte."My Lai: An American Tragedy", in: Time, 5. Dezember 1969, S.4-5, 25-34, 75-78, hier S.27. Vgl. "GI's in Battle: The 'Dink' Complex", in: Time, 1. Dezember 1969, S.37; Time, 28. November 1969, S.19; "Abhorrent to Conscience", in: International Herald Tribune, 28. November 1969; "Songmy Boy Pantomimes Slaying of Mother", in: The New York Times, 4. Dezember 1969; "My Lai Scapegoating", in: International Herald Tribune, 4. Dezember 1969; "Atrocities and Politics", in: The Wall Street Journal, 1. Dezember 1969; William M. Hammond, Reporting Vietnam. Media and Military at War, Lawrence, Ka. 1998; Reporting Vietnam. American Journalism. Part One, 1959-1969; Part Two, 1969-1975, New York 1998; Engelhardt, Victory Culture, S.187 ff., 192; Anderson, Facing, S.54 ff., 57, 62.
Wir können, meint der Journalist David Halberstam, eine Art Zeitreise beobachten, zurück in das Amerika der 30er und 40er Jahre, das noch nicht dem Denken und Fühlen des Kalten Kriegs anheimgefallen war. Wurde damals von einem "good war" gesprochen, so meinte man auch den Respekt der eigenen Soldaten vor moralischen Tabus - zum Beispiel dem Tabu, Zivilisten vorsätzlich anzugreifen. Daß die Realität, zumal gegen Ende des Kriegs, mitunter anders aussah, ist bekannt, aber kein Einwand gegen den Hinweis auf ein intaktes Selbstbild. Im Schatten von My Lai wurde es wieder in Erinnerung gerufen. Auch wenn in jedem Krieg Unschuldige sterben, darf My Lai damit nicht entschuldigt werden, schrieb "Time" im April 1971 und fuhr fort:"Selbst inmitten des Horrors muß man sich sein Urteils- und Unterscheidungsvermögen bewahren - darauf beruhen alle Gesetze, jede Moral und folglich auch unser Überleben. Diese Unterscheidung nicht mehr zu machen, ist ein Ausweis moralischer Blindheit." Damit klang zugleich das Entsetzen über eine Regierung an, die sich hinter einer Mauer des Schweigens verschanzte. Wieso hatte man den Massenmord geheimgehalten? War das Militär zu einem Staat im Staate geworden? Welchem Politiker oder Militär war überhaupt noch zu trauen? Die diesbezüglichen Kommentare von James Reston in der "New York Times " sind, rückblickend betrachtet, das erste Kapitel eines Streits, der in den nächsten Jahren im Skandal um die Pentagon-Papiere und Watergate eskalierte und die politische Elite an ihrer empfindlichsten Stelle traf: Es ging um den "National Security State", dessen Erfolg im Kalten Krieg mit dem Verzicht auf demokratische Kontrolle erkauft worden war. Auch diese Seite hatte Jonathan Schell im Blick, als er für den "New Yorker" einen mittlerweile legendären Satz zu Papier brachte: "Wenn wir anfangen, dergleichen hinzunehmen, dann wird es nichts mehr geben, was wir nicht hinnehmen.""Who Shares the Guilt?", in: Time, 12. April 1971, S.20; Jonathan Schell, zitiert nach Anderson, Facing, S.66. Vgl. "Conscience and the War", "An American Nightmare", in: International Herald Tribune, 24. November 1969; "My Lai 4", in: International Herald Tribune, 27. November 1969; James Reston, "Who Is to Blame for Song My?", in: International Herald Tribune, 27. November 1969; Bilton, Sim, Four Hours, S.23, 41 ff., 241 ff., 248 ff., 282 ff., 371; Engelhardt, Victory Culture, S.192, 197; Hersh, My Lai 4, S.128 ff., 142; William Prochnau, Once Upon Distant War, New York 1995.
Womit die zweite Besonderheit der späten 60er Jahre angesprochen ist: Die Manager der "nationalen Sicherheit" verloren, wenn auch nur für einen kurzen historischen Moment, Überblick und Kontrolle. Die Administration Nixon, seit dem Frühjahr 1969 über die Morde informiert, hatte zunächst versucht, die Untersuchungen unter Ausschluß der Öffentlichkeit durchzuführen. Die internen Protokolle bezeugen das Aufbäumen einer in der Paranoia des Kalten Kriegs verhedderten Regierung, die sich nur in einem nach Freund oder Feind, schwarz oder weiß, Sieg oder Katastrophe sortierten Koordinatensystem bewegen konnte. Eine öffentliche Debatte über Kriegsverbrechen galt als "Dolchstoß" in den Rücken der kämpfenden Armee, mithin als Triumph des Vietcong; oder als Sabotage der von Nixon vorsichtig eingeleiteten Kurskorrektur in Vietnam; oder als Anfang vom Ende der Streitkräfte in ihrer staatstragenden Rolle. "Dahinter stehen doch diese schmutzigen, elenden Juden aus New York", predigte der Präsident seinen Beratern. "Wir müssen unter allen Umständen diese Attacke ersticken, mit einer machtvollen und unüberwindlichen Reaktion." Womit verdeckte Operationen gemeint waren, die im Detail noch nicht bekannt sind, aber offensichtlich auch mit Hilfe einflußreicher Kongreßmitglieder wie Mendel Rivers und Edward Hebert orchestriert wurden. Doch diese Rechnung ging nicht auf.Richard Nixon, zit. n. Bilton, Sim, Four Hours, S.315, 321. Vgl. ebd., S.284, 288; "Rivers Differs with Nixon on Songmy", in: The New York Times, 10. Dezember 1969, S.12; Anderson, Facing, S.28 ff., 61; Seymour M. Hersh, Cover-Up, New York 1972, S.233 ff.; Arthur M. Schlesinger, Jr., The Bitter Heritage. Vietnam and American Democracy, 1941-1966, Boston 1967.
Unter dem Druck der Öffentlichkeit mußte das Weiße Haus einlenken. Nicht allein in der Presse wurde eine unabhängige Untersuchung gefordert, auch Politiker und sonstige Eliten, darunter auffällig viele Konservative, äußerten sich in diesem Sinne - etwa Senator John C. Stennis, Vorsitzender des "Armed Services Committee" im Repräsentantenhaus, der ehemalige Vizepräsident Hubert Humphrey, Arthur J. Goldberg, vormals Richter am Supreme Court, eine Gruppe ehemaliger Mitarbeiter des Außenministeriums nebst noch aktiven Abgeordneten des Kongresses sowie 34 Anwälte und Rechtsprofessoren. Sie wollten die anstehenden Ermittlungen dem Militärstaatsanwalt entziehen und verwiesen auf den französischen Ministerpräsidenten Clemenceau, der seit den 30er Jahren mit dem Satz zitiert wird, man dürfe die Rechtsprechung von Militärgerichten ebensowenig mit Recht verwechseln wie den Marsch einer Militärkapelle mit Musik. Eine unabhängige Kommission wurde zwar nicht einberufen. Daß die Ermittlungen zu My Lai dennoch unabhängig vom Weißen Haus und Pentagon durchgeführt werden konnten, ist letzten Endes einer anfänglich nicht überschaubaren Entscheidung der Armeeführung geschuldet. Gemeint ist die Ernennung von William Peers zum Sonderermittler. Dieser Drei-Sterne-General, nicht an einer Begrenzung des Schadens, sondern an der Offenlegung des Verbrechens interessiert, agierte von Anfang an ohne Rücksicht auf seine Auftraggeber. Und eröffnete nolens volens einen beunruhigenden Blick auf das politische System. Die Kontrolle exekutiver Macht funktionierte scheinbar nur, sobald jemand aus dem inneren Kreis die Spielregeln aufkündigte.Vgl. "U.S. Lawyers Criticize Army on Green Beret, My Lai Case", in: International Herald Tribune, 29. Dezember 1969; "Mansfield Asks Congress Study Into Alleged Vietnam Massacre", in: The New York Times, 23. November 1969, S.3; Hersh, My Lai 4, S.169 ff.; Bilton, Sim, Four Hours, S.290 ff., 322 ff.
Wenn wir also nach den Gründen des Umbruchs im Jahr 1969 fragen, so sollte an dritter, aber keineswegs letzter Stelle eine politische Haltung genannt werden, die im Amerikanischen als "breaking ranks" bekannt ist - als Abkehr von der sozialen Schicht, politischen Gruppierung oder beruflichen Organisation, der man sich zugehörig fühlt. Kaum hatte die Debatte über My Lai begonnen, griff das "breaking ranks" auf ein Milieu über, wo es am wenigsten zu erwarten war: Heimkehrende Soldaten brachen das von ihnen erwartete Schweigen. Als hätte sich ein Ventil geöffnet, erzählten sie von Kriegsverbrechen, die sie zum Teil erlebt, zum Teil selbst begangen hatten. Den Anfang machte Paul Meadlo Anfang Dezember in den Abendnachrichten von CBS mit dem Geständnis, daß er in My Lai auch Kleinkinder erschossen hatte. "And babies?" - "And babies." Danach meldeten sich immer mehr Männer der "Charlie Company" zu Wort, trotz der Warnungen ihrer Freunde und Angehörigen und obwohl sie Gefahr liefen, selbst vor Gericht gestellt zu werden. Monatelang machten ihre Berichte Schlagzeilen, zuletzt anläßlich der von den "Vietnam Veterans Against the War" organisierten Demonstrationen im Frühjahr 1971, als Hunderte Veteranen Orden zurückgaben und ihre eigene Verhaftung forderten. Dergleichen hatte es in der amerikanischen Geschichte noch nicht gegeben. Diese GIs bedienten weder das traditionelle Bedürfnis nach Heldengeschichten noch nährten sie auf andere Weise den Mythos des selbstlosen Kriegers. Im Gegenteil, sie waren dabei, einen der im 20. Jahrhundert stilbildenden amerikanischen Mythen zu ruinieren.Vgl. "Ex-GI Tells of Massacre of Villagers", in: International Herald Tribune, 25. November 1969; "Ex-GI Tells U.S. He Killed Women, Babies at Song My", in: International Herald Tribune, 26. November 1969; "Resor Called to Testify About Alleged Massacre. Ex-G.I. Tells of Shooting", in: The New York Times, 26. November 1969; "Interview with Ex-GI", in: International Herald Tribune, 26. November 1969; "The Killings at Song My", in: Newsweek, 8. Dezember 1969, S.33 -41; Vietnam Veterans Against the War, The Winter Soldier Investigation. An Inquiry into American War Crimes, Boston 1972; Richard Stacewicz, Winter Soldiers. An Oral History of the Vietnam Veterans Against the War, New York etc. 1997; Richard R. Moser, The New Winter Soldiers. GI and Veteran Dissent During the Vietnam Era, New Brunswick 1996; Hersh, My Lai 4, S.162-166, 183 ff.; Bilton, Sim, Four Hours, S.377; Engelhardt, Victory Culture, S.233.
Dennoch gehen die meisten Historiker mit den Erzählungen dieser Soldaten nachlässig um. Guenter Lewy gehört zu den Ausnahmen, redet aber gleichwohl das Thema klein. Er sieht nur Opportunisten am Werk, die mit der Kritik eines ohnehin unpopulär gewordenen Kriegs wenig aufs Spiel setzten und nicht um der Wahrheit willen, sondern aus Sensationslust an die Öffentlichkeit traten. Oder weil sie um Verzeihung buhlen wollten. Mag sein, daß derlei Kalkül im einen oder anderen Fall eine Rolle spielte. Ob sich freilich Lewys Fazit damit begründen läßt, erscheint zweifelhaft. Sehr viele, wenn nicht die Mehrheit der Soldaten, suchten nämlich keine billigen Entschuldigungen, beriefen sich weder auf Befehlsnotstand noch auf Sachzwänge anderer Art, klagten weder über den Krieg an sich noch über die Eigenheiten des Kampfes im Dschungel. Sie schockierten vielmehr mit dem Hinweis auf einen zum Zeitpunkt der Tat dramatisch verengten moralischen Horizont. "Da war doch nichts dabei", wie der Angeklagte Calley vor Gericht meinte. Im Unterschied zu Calley schämten sie sich und sprachen von einem Verbrechen, das nicht wiedergutzumachen sei, dessen Konsequenzen sie aber zu tragen hätten. Eine Haltung, die auch der Psychoanalytiker Robert Jay Lifton in seiner Arbeit mit Veteranen bestätigt fand. Mit seiner These vom Krieg als "gewaltproduzierender Situation" konnten die Probanden wenig anfangen. "Das ändert doch nichts an dem", entgegneten sie, "was wir persönlich zu verantworten haben". Möglicherweise liegt hier ein weiterer Grund für die anhaltende Mißachtung eines einzigartigen Quellenbestands - es waren nämlich ausgerechnet die Täter, die der amerikanischen Gesellschaft ein beinahe vergessenes Prinzip wieder in Erinnerung riefen: das Prinzip der individuellen Verantwortung.Vgl. Guenter Lewy, America in Vietnam, Oxford etc. 1978. B. G. Burkett und Glenn Whitley schließen mit ihrer jüngsten Publikation an Lewy an: Stolen Valor. How the Vietnam Generation Was Robbed of its Heroes and its History, Dallas 1998. Ihre Kritik richtet sich u.a. gegen Mark Lane, Conversations with Americans. Testimony from 32 Vietnam Veterans, New York 1970. Vgl. Anderson, Facing, S.2, 22, 40; Bilton, Sim, Four Hours, S.262, 378; Wallace Terry, Bloods. An Oral History of the Vietnam War by Black Veterans, New York 1991.
So bemerkenswert der Bruch des Jahres 1969 ist, er blieb Episode. Für die Transformation des Schocks in Hysterie und Aggressivität bedurfte es nur weniger Monate. Die "Minneapolis Tribune" stellte bereits im Dezember 1969 bei einer Umfrage unter 600 Personen fest, daß 49 Prozent die Nachricht über My Lai für eine Presselüge hielten. Bei einer in 1600 Haushalten in Auftrag gegebenen Erhebung sahen zwei Drittel der Befragten keinen Grund zur Aufregung. Für sie waren Krieg und Massaker gegen Zivilisten eins. "Time" konstatierte im April 1971 eine "fürchterliche Verwirrung" und eine "erstaunliche, wahrhaft widerliche Entstellung moralischer Sensibilität". Im "Wall Street Journal" schließlich sind die zur Illustration geeigneten Stimmen des Volkes nachzulesen. "Die Nordvietnamesen sind noch schlimmer." - "Warum geben sie den Soldaten Patronen - damit sie diese in ihre Hosentaschen stecken?" - "Viele von unseren Jungs, die dort drüben getötet werden, sind doch selbst auch noch Kinder." - "Sie haben bekommen, was sie verdienten.""The Clamor Over Callay", in: Time, 12. April 1971, S.14 -21; "Assessing Songmy. Doves Recoil, but Hawks Tend to See 'Massacre' as Just Part of War", in: The Wall Street Journal, 1. Dezember 1969. Vgl. Peter Steinfels, "Calley and the Public Conscience", in: Commonweal, 94, 16. April 1971, S.128 ff.
Letzteres stammt von einem Abgeordneten aus Louisiana und weist auf eine seltene Einmütigkeit von Elite und Bevölkerung hin. Mehrere Bundesstaaten flaggten vor Behördengebäuden wegen des Prozesses gegen William Calley auf halbmast, Gouverneure, unter ihnen auch der spätere Präsident Jimmy Carter, riefen zur Solidarität mit dem Angeklagten auf, Musterungsausschüsse drohten mit der Einstellung ihrer Arbeit, die Lobbyisten des Veteranenverbandes "American Legion" hatten bei Parteien und Parlamenten leichtes Spiel. Auch jenseits des als "militaristisch" verschrienen Südens und Mittleren Westens fanden sich "Falken" und "Tauben", Hausfrauen und Studenten, Mechaniker und Mathematiker, Hippies und "Rednecks" mit ihren "Befreit-Calley"-Parolen Seite an Seite, mitunter zu den Klängen eines in wenigen Tagen zum Hit gewordenen Liedes, dessen Refrain mit dem Satz ausklang: "My name is Rusty Calley - I'm hero of the land." Beispiele dieser Art, obwohl Legion, sollten in keiner Darstellung fehlen, da sie uns wenigstens schemenhaft jene Emotionalisierung vor Augen führen, die viele Beobachter für einzigartig in der amerikanischen Geschichte halten. Es schien, als wollte sich die in den Jahren des Kriegs gespaltene und zerstrittene Nation neu konstituieren - in einer Art "Erregungsgemeinschaft". Das "Fenster der Gelegenheit" war jedenfalls wieder geschlossen.Vgl. Hersh, My Lai 4, S.151 -70; Bilton, Sim, Four Hours, S.340 ff.; Engelhardt, Victory Culture, S.217ff., 223 ff. Während des Prozesses erreichten Calley täglich Hunderte aufmunternder Zuschriften; der Verfasser wird im Rahmen einer ausführlicheren Abhandlung auf diese Quellen zurückkommen.Vertragsverletzungen Den Furor zu beschreiben ist einfach; ihn zu erklären, noch heute so schwierig wie damals. Lange Zeit bedienten sich Historiker bei der Psychoanalyse und arbeiteten mit Begriffen wie "Betäubung", "Allmacht" und "Spaltung". Lifton hatte bereits 1969 in einem Gespräch mit "US News & World Report" sein Verständnis von "psychic numbing" mit My Lai in Verbindung gebracht. Demnach praktizierte die amerikanische Gesellschaft eine Art Selbstschutz: Je größer das Maß der alltäglich erfahrenen Gewalt, desto stärker die Überforderung, damit umzugehen, und um so ausgeprägter die Neigung, sich zu immunisieren. Für diese Beobachtung sprechen vergleichbare Phänomene in anderen Ländern und nicht zuletzt die Daten, die im Rahmen der Behandlung traumatisierter Kriegsveteranen gesammelt wurden. Dort finden wir auch Hinweise auf Allmachtsphantasien, die Herbert Marcuse als geheimes Band zwischen Front und Heimatfront, Tätern und Tätergesellschaft ausmachte. Äußerte sich, so seine Frage angesichts der Reaktionen auf den Calley-Prozeß, der Wunsch, ohne Strafe töten zu dürfen? Wollte man das Gebot "Du sollst nicht töten" umschreiben in "Du darfst töten, zerstören und plündern"? Oder sollte ein unerträglich gewordenes Schuldgefühl durch aggressive Abwehr getilgt werden? Könnte es gar sein, daß ein Bewußtsein von Schuld aufgelöst wird in der Identifikation mit den Tätern? Die Rezeption des Milgram-Experiments hat dazu beigetragen, diese Fragen wachzuhalten. Sie wurden in zeitgeschichtlichen Texten freilich nicht vertieft, sondern in der Regel nur rekapituliert."Interview with Prominent Psychiatrist. Why Civilians are War Victims", in: U.S. News & World Report, 15. Dezember 1969, S.25 -28; Herbert Marcuse, "Über William Calley", in: Süddeutsche Zeitung, 3. Juni 1972; Herbert C. Kelman, "The Social Context of Torture", in: Ronald D. Crelinsten, Alex P. Schmidt (Hrsg.), The Politics of Pain: Torturers and Their Masters, Boulder, Co. 1995.
Die jüngst vollzogene "kulturalistische Wende" in der Geschichtswissenschaft hat auch zu einer neuen Debatte über die Reaktionen auf My Lai angeregt. Tom Engelhardt und Gabriel Kolko zum Beispiel sprechen von der Wiederbelebung eines ins kollektive Gedächtnis eingravierten Mythos: Im Krieg werden die eigenen Truppen stets aus dem Hinterhalt angegriffen und von einem brutalisierten Feind gezwungen, sich ihrerseits über moralische Maßstäbe hinwegzusetzen. Im "Indian Country" muß, ob man will oder nicht, alles erlaubt sein. Wir haben es demnach mit einem "viktimisierenden Narrativ" zu tun. Amerikanische Soldaten sind Opfer, zumal in Situationen, wo sie einem in rassistische Stereotype eingepaßten Feind gegenüberstehen.
Die populären Abbilder des Kriegs in Vietnam sind eine Fundgrube zur Illustration dieser These. Sie schlagen einen Bogen vom "quagmire", der alles verschlingenden Dschungelwelt, zur Imagination des Vietcong als einer Truppe, die nicht mit westlichen Wertemaßstäben beurteilt werden kann, die einen "orientalischen Krieg" jenseits der Normen eines "normalen Kriegs" führt und das eigene Leben sowenig achtet wie jenes ihrer Gegner. Gewiß wäre es naiv, die Rücksichtslosigkeit nordvietnamesischer Krieger leugnen zu wollen, zumal im Licht neuer Forschungen. Aber in der amerikanischen Vorstellungswelt verwandelten sich, wie von Veteranen vielfach bestätigt, reale Geschichten in Phantasmen mit einem gegen jede Evidenz resistenten Eigenleben. So begegnen wir Frauen, die mit ihrem Baby auf dem Arm die Handgranate zudecken, mit der sie im nächsten Augenblick eine Gruppe GIs und sich selbst in die Luft sprengen. Oder wir sehen die Kinderhand, die einen Soldaten um Schokolade anbettelt und den Arglosen in eine mit vergifteten Bambusspitzen ausgelegte Fallgrube lockt. Fast 30 Jahre nach Ende des Kriegs sind diese Visionen noch immer präsent. Als "Gegenentwurf" zu den Enthüllungen amerikanischer Verbrechen behaupten sie ihren Platz im kollektiven Gedächtnis. So gesehen ist die Landserliteratur über Vietnam, die heute in jeder größeren Buchhandlung Regale füllt, auch und gerade für Historiker eine Primärquelle.Vgl. Engelhardt, Victory Culture, S.217 ff., 223 ff.; Gabriel Kolko, Century of War. Politics, Conflict, and History Since 1914, New York 1994, S.373-485; Anderson, Facing, S.188; Richard Hammer, The Court-Martial of Lt. Calley, New York 1971, S.161 ff.; James William Gibson, Warrior Dreams. Violence and Manhood in Post-Vietnam America, New York 1994, S.23; Lloyd B. Lewis, The Tainted War. Culture and Identity in Vietnam War Narratives, Westport 1985. Das Opfernarrativ spiegelt sich auch in den Arbeiten der Kriegsfotografen. Vgl. Horst Faas, Tim Page (Hrsg.), Requiem. By the Photographers who Died in Vietnam and Indochina, New York 1997.
Wie immer wir diese unterschiedlichen Erklärungen im einzelnen bewerten mögen, eine Schwäche scheint ihnen allen gemeinsam. Sie verlieren sich, sobald man nach dem spezifisch Amerikanischen fragt, im Ungefähren. Liftons "psychic numbing" zum Beispiel wird neben Vietnam und mit identischen Argumenten auf die Perzeption und Verarbeitung vieler anderer Ereignisse angewendet: Nazi-Verbrechen, Hiroshima, Gulag, Kuba-Krise, nukleare Hochrüstung, Golfkrieg. Es ist zu einem "Catch-all"-Modell der Zeitgeschichte avanciert, das mit jeder beantworteten Frage zig neue aufwirft. Nicht viel besser ist es um Engelhardts "Opferdiskurs" bestellt. Ihm begegnen wir in frappierend ähnlicher Form in Deutschland, Japan, in der Türkei, in Österreich, in Frankreich, Schweden, den Niederlanden, in Ruanda, Kuba oder Indonesien. Man ist fast versucht, von einem Standardrepertoire kriegführender Gesellschaften zu sprechen, egal ob tribalistische "warlords" oder Atommanager das Sagen haben und unabhängig davon, ob mit Handfeuerwaffen oder Langstreckenbombern gekämpft wird. Diese Einsicht ist nicht neu. Um so mehr erstaunt der geringe wissenschaftliche Aufwand, der zum Schließen unserer Wissenslücken betrieben wird. Gerade die My Lai-Debatte bot, gemessen an der Zahl der Beteiligten oder der emotionalen Intensität, eine einzigartige Gelegenheit für sozialwissenschaftliche Feldstudien. Aber repräsentative und vergleichstüchtige empirische Daten wurden kaum erhoben.
Einzig Herbert Kelman, Soziologe aus Harvard, hatte die Gunst der Stunde erkannt. Im Mai und Juni 1971, unmittelbar nach der Verurteilung Calleys zu einer lebenslänglichen Haftstrafe, führten er und seine Mitarbeiter eine nationale Umfrage durch. Sie legten ein als "block quota sample" bekanntes Verfahren zugrunde. Nach dem Zufallsprinzip wurden im gesamten Land Wohneinheiten in "Blockgröße" ausgesucht. Aus deren Mitte wählte man eine Gruppe von 990 Personen aus, die für die Geschlechts- und Altersverteilung in den USA repräsentativ waren. Die zentrale Frage lautete: Sollen oder müssen in einer Situation wie My Lai Befehle zur Ermordung von Zivilisten befolgt werden? Die überwiegende Mehrheit hielt es für angemessen, wenn nicht moralisch geboten, einer diesbezüglichen Order nachzukommen. 67 Prozent waren der Meinung, daß die meisten Menschen einem Schießbefehl folgen würden, 51 Prozent gaben an, sie persönlich würden ebenfalls feuern, und 33 Prozent sahen sich in der Rolle von Verweigerern. 59 Prozent - und damit deutlich weniger als in Harris- oder Gallup- Umfragen - lehnten den Prozeß gegen Calley ab, 34 Prozent befürworteten ihn. Konsequenterweise wiesen die Befragten auch eine individuelle Verantwortung für die Tat mehrheitlich zurück und stritten einem Soldaten das Recht, vor allem aber die Pflicht ab, über die juristische, politische oder moralische Legitimität der Weisungen von höherer Stelle zu urteilen.Herbert C. Kelman, V. Lee Hamilton, Crimes of Obedience. Toward Social Psychology of Authority and Responsibility, New Haven, London 1989, S.168 ff., 173 ff., 181, 212. Vgl. Herbert C. Kelman, Lee H. Lawrence, "Assignment of Responsibility in the Case of Lt. Calley: Preliminary Report on National Survey", in: Journal of Social Issues, 28, 1, 1972, S.177 -213; Lee H. Lawrence, Herbert C. Kelman, "Reactions to the Calley Trial: Class and Political Authority", in: Worldview, 16, 6, 1973, S.34-40.
So weit, so unspektakulär. Angesichts einer "Bürgerwehr", die monatelang und mit großem Erfolg an der emotionalen Inszenierung eines Plebiszits gearbeitet hatte, waren solide Mehrheiten im Sinne der Angeklagten zu erwarten. Überraschend scheint nur, daß sie nicht noch deutlicher ausfielen und 33 Prozent der Befragten sich als "Befehlsverweigerer" einstuften. Ob sie diesem Selbstbild auch in der militärischen Praxis entsprochen hätten, steht auf einem anderen Blatt. Aber immerhin entzog sich eine relativ starke Gruppe der grassierenden Hysterie. Welche Schlüsse daraus zu ziehen sind, diskutiert Kelman nicht. Die Stärke seiner Untersuchung liegt vielmehr in der Anamnese dieser Hysterie. Der Fragenkatalog ist so differenziert, daß die Antworten zugleich über das hinter einer Meinung verborgene Lebensgefühl Aufschluß geben. Kelmans Akten können mithin als Quellen zur Mentalitätsgeschichte studiert werden. Sie handeln im wesentlichen von einem gestörten Rechtsgefühl."Die haben einen Vertrag verletzt", warfen die Befragten den Anklägern der My Lai-Mörder immer wieder vor. Gemeint war ein "politischer Vertrag" zwischen Regierenden und Regierten, in dem festgelegt ist, was ein Bürger von seiner Regierung erwarten darf und welche Ansprüche eine Regierung an den Bürger richten kann. Wir haben ein Ensemble von Ideen vor uns, das auch heute nichts von seiner Brisanz eingebüßt hat, zumal für Historiker, die sich für den Zusammenhang von Gewalterfahrung und Demokratie, von Macht und Gewalt oder Recht und Macht interessieren. Insofern gehört Kelmans Arbeit zu den Grundlagentexten amerikanischer Zeitgeschichte - auch wenn sie mittlerweile fast in Vergessenheit geraten ist.
Nach My Lai befragt, definierten sich Angehörige der Unterschicht als "Bauern" im Schachspiel der Politik - als Gruppe ohne gestalterische Kraft und der Initiative anderer ausgeliefert, aber zugleich zuverlässig und bereit, zum Gelingen der ihnen verordneten Züge beizutragen. Diese Machtlosigkeit wird akzeptiert, freilich nur so lange, wie die Mächtigen ihren eigenen Verpflichtungen nachkommen. Auf den Kriegsdienst bezogen folgt daraus, daß der Staat einerseits seine Bürger zum Dienst an der Waffe zwingen kann, andererseits für die Konsequenzen dieses erzwungenen Handelns geradestehen muß. Den einzelnen in die Pflicht nehmen zu wollen würde den "Vertrag" moralisch aufkündigen und zivilen Ungehorsam politisch legitimieren. Viele Reaktionen auf die damals anstehenden My Lai-Prozesse illustrieren diese Haltung, angefangen bei GIs in Vietnam, die Calley ihrer Solidarität versicherten, bis zu Zeugen der Anklage, die eine Kooperation mit den "Bonzen" verweigerten und sich auf ein alsbald geflügeltes Wort aus dem Munde von Paul Meadlos Mutter beriefen:"Ich habe ihnen einen guten Jungen gegeben, und sie haben einen Mörder aus ihm gemacht." Das in der politischen Kultur der USA traditionelle Mißtrauen gegenüber dem Staat verdichtete sich zu einer diffusen Anklage gegen "das System". Letztlich begegnen wir einer Kritik, die sich um ihrer Glaubwürdigkeit willen ständig radikalisieren mußte. Erst wenn die Armee zu allem und die politische Klasse zu nichts mehr fähig schien, konnte man das Individuum von aller Verantwortung freisprechen. Und dem "Bauern" Calley blieb die Rolle des "Sündenbocks". In ihr gab er den Ohnmächtigen zumindest symbolisch eine Stimme.Vgl. Kelman, Hamilton, Crimes of Obedience, S.233, 268; Anderson, Facing, S.9, 46, 65 ff.; Bilton, Sim, Four Hours, S.311 ff., 363.
Der Mittelstand fühlte sich ebenfalls verraten, wenn auch aus anderen Gründen. Nicht politische Entfremdung ist hier das Stichwort, sondern Engagement bis hin zur Identifikation mit dem Staat. Ob Angestellte, Freiberufler oder Kleinunternehmer, ausweislich der von Kelman vorgelegten Fragebögen neigten sie alle dazu, staatsbürgerlichen Gehorsam als höchsten moralischen Wert einzustufen. My Lai begegnete ihnen daher wie ein unauflösbares Dilemma. Sobald der Staat einen der Ihren anklagte, etwa die im Verdacht der Aktenvernichtung oder Pflichtverletzung stehenden Offiziere, kam er seiner Gratifikationspflicht gegenüber den treuesten Dienern nicht nach. Diese freilich konnten ihre Loyalität nur um den Preis eines ruinierten Selbstbildes aufkündigen - und mithin auf die Gefahr, das ethische Fundament des Gemeinwesens auf unkalkulierbare Weise zu schädigen. Wir können die Politik der im Kern mittelständischen Friedensbewegung als Reflex dieses Dilemmas begreifen. Auf der einen Seite geriet ihr Protest gegen den Krieg zu einer rituellen Beschwörung der Tradition. Selbst Hippies legten Armeeuniformen und Orden aus den "guten alten Tagen" des Zweiten Weltkriegs an, als Regierung und Bürger gemeinsam für die nationalen Werte einstanden. Und Vietnamveteranen, die sich selbst als Kriegsverbrecher anklagten, benannten ihre Gruppe nach der Elitegarde von George Washington: "Winter Soldiers". Auf der anderen Seite verbannte die Friedensbewegung das Thema Kriegsverbrechen in kürzester Zeit von ihrer Agenda - als wäre die Grenze des politisch Zumutbaren nicht mit dem Verbrechen, sondern mit dessen Thematisierung erreicht. So gesehen, sollte das lautstarke "Peace Now" nicht nur den Krieg beenden, sondern mit dem Ende des Kriegs auch eine Debatte aus der Welt schaffen, in der man nur die Rolle des betrogenen Betrügers spielen konnte.Kelman, Hamilton, Crimes of Obedience, S.262 -277, 292 -297, 318 -324. Vgl. Engelhardt, Victory Culture, S.231, 233 ff., 244; Anderson, Facing, S.103; Melvin Small, William D. Hoover (Hrsg.), Give Peace Chance. Exploring the Vietnam Antiwar Movement, Syracuse 1992; Charles Chatfield, The American Peace Movement. Ideals and Activism, New York etc. 1992, S.117-146. Anschaulicher als viele Historiker schildert Norman Mailer das Dilemma der Friedensbewegung in seinem Roman "The Armies of the Night", New York 1968.
In anderen Worten: Der wegen My Lai entbrannte Streit drehte sich gar nicht um Kriegsverbrechen. Die von Kelman befragte Klientel führte ihn als symbolische Auseinandersetzung um ihr politisches Selbstverständnis und ihre Rolle im gesellschaftlichen System. Leider spielt diese These in der wissenschaftlichen Diskussion keine Rolle - nicht zuletzt deshalb, weil Historiker wie Sozialwissenschaftler den von Kelman eingeschlagenen Weg nicht weitergegangen sind. Allein die Universität Massachusetts gab 1976 eine methodisch ähnlich konzipierte Folgestudie in Auftrag. Ihre Ergebnisse können wie ein Dementi interpretiert werden: 63 Prozent statt ehedem 34 Prozent befürworteten den Prozeß gegen Calley; die Zahl derer, die das Prinzip der "individuellen Verantwortung" für kriminelles Handeln ablehnten, sank von 65 Prozent auf 42 Prozent, und zugleich gaben 39 Prozent an, sie würden unter vergleichbaren Umständen den Befehl verweigern - sechs Prozent mehr als 1971. Welche Schlüsse wir daraus ziehen können, bleibt freilich Spekulation. Denn die Umfrage des Jahres 1976 wurde nur im Großraum Boston und unter Bürgern durchgeführt, die sich hinsichtlich ihrer Bildung und religiösen Einstellung deutlich vom Landesdurchschnitt unterschieden. So bleibt uns, wollen wir die Ursachen für eine von Emotionen und Affekten diktierte Kontroverse verstehen, nur eine empirisch repräsentative Momentaufnahme: die Studie von Kelman nämlich samt ihres Befundes, daß eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner Anfang der 70er Jahre ihre Regierung vor die Alternative stellte, entweder My Lai zu den Akten zu legen oder die Loyalität der "schweigenden Mehrheit "aufs Spiel zu setzen. Zum Ausdruck ihrer Entschlossenheit wählte sie eine kompromißlos formulierte Solidaritätsadresse an die Angeklagten: "You'll never walk alone."Vgl. Kelman, Hamilton, Crimes of Obedience, S.236 ff., 241 ff., 268 ff., 348 ff.Akte geschlossen Die innenpolitische Stimmung war also längst gekippt, als General Peers seinen Abschlußbericht vorlegte: Dienstanweisungen, Gefechtsberichte, Lagebeurteilungen, Interviews mit Tätern und Überlebenden - mehr als 20 000 Seiten, auf denen so detailliert wie nie zuvor das Innenleben der Armee ausgeleuchtet wurde. Peers zeichnete das Bild einer in der Führung maroden Institution. Viele Offiziere hatten um das Massaker von My Lai gewußt, einige waren von Zeugen wie Hugh Thompson oder Ron Ridenhour bedrängt worden, etwas zu unternehmen. Sie rührten sich dennoch nicht. Sorge um die Karriere, Verachtung für die Opfer, zynische Weltbilder oder Berufsauffassungen, was immer im Einzelfall den Ausschlag gegeben haben mag, Peers dokumentierte ein Ausmaß an Desinteresse, das zu Beginn der Untersuchung niemand für möglich gehalten hätte. Noch weniger hatte man sich vorstellen können, daß eine Gruppe ranghoher Offiziere das Gemetzel von Hubschraubern aus tatenlos beobachtete. Dieser Vorfall wird, wie viele andere auch, wohl niemals hinreichend aufzuklären sein, weil die wichtigsten Unterlagen beiseite geschafft wurden - und zwar auf jeder Kommandoebene der "Americal Division", wie Peers feststellen mußte. Der General wies daher die Rede von einzelnen "schwarzen Schafen" zurück. Seines Erachtens handelte es sich um eine "institutionalisierte Vertuschung", die Anlaß gab, grundsätzlich über die Institution Armee nachzudenken. Im Kern stellte auch Peers die Frage nach dem "National Security State". Hatte man es mit Organisationen zu tun, die sich den von der Verfassung vorgesehenen "checks and balances" entzogen? Und die folglich die Architektur staatlicher Macht und öffentlicher Kontrolle aus dem Lot zu bringen drohten? Mußte die demokratische Frage im Lichte dieser Ereignisse neu gestellt werden?Vgl. The Department of the Army Review of the Preliminary Investigations into the My Lai Incident, in: RG 319, Records of the Army Staff, Peers Inquiry, Vol. I-IV, National Archives, College Park, Md.; zur gekürzten Version des Peers-Reports vgl. W.R. Peers, The My Lai Inquiry, New York 1979. Vgl. John Hart Ely, War and Responsibility. Constitutional Lessons of Vietnam and Its Aftermath, Princeton 1973; Anderson, Facing, S.38 ff. ,47, 50, 60, 209 ff.
Skandalträchtig war der Peers-Report noch aus einem anderen Grund. Er mehrte die Zweifel, ob My Lai als Ausnahme betrachtet werden konnte. Während ihres Aufenthaltes in Vietnam waren den Ermittlern der Peers-Kommission Gerüchte zu Ohren gekommen, daß "Bravo-Company", eine weitere Abteilung der "Task Force Barker", in einem von den Militärs "My Khe 4" genannten Weiler eingesetzt war und dort zur gleichen Zeit wütete wie ihre Schwesterkompanie "Charlie" im wenige Meilen südlich gelegenen My Lai. Im Laufe der Untersuchungen erhärtete sich der Verdacht und wurde schließlich zur Gewißheit. Auch in My Khe hatten GIs alle Bewohner getötet, deren sie habhaft werden konnten, vermutlich 90 Menschen, ausnahmslos Zivilisten. Peers hatte weder die Zeit noch das Personal, um dieses Massaker genauso sorgfältig zu dokumentieren wie My Lai. Aber wie so oft kümmerte er sich nicht um seine ursprüngliche, auf das militärinterne "cover-up" beschränkte Aufgabe und nahm die von der "Criminal Investigation Division" der Armee zusammengetragenen Beweise in den Abschlußbericht auf. Deutlicher hätte der Hinweis, daß man nicht am Ende, sondern erst am Anfang der Untersuchung von Kriegsverbrechen stand, kaum ausfallen können.Vgl. Hersh, Cover-Up, S.244 ff.
Daß sich die Presse diesem Kurs beugte, ist bekannt. Warum sie es tat, wieso sie im Vergleich zur Berichterstattung vom November 1969 nicht wiederzuerkennen war, weshalb der journalistische Eifer binnen weniger Monate erlahmte, gehört zu jenen Kapiteln Mediengeschichte, die noch nicht geschrieben sind. Sie sollte in Teilen als Diskursanalyse verfaßt sein, die sich mit der begrifflichen Umwidmung des Wortes "Verbrechen" befaßt. Aus "crime" wurde nämlich "tragedy" und schließlich "incident", das heißt eine Kategorie von Schäden, in die man normalerweise Verkehrsunfälle oder Kaufhausdiebstähle einordnet. Von der Berichterstattung der "New York Times" und "Los Angeles Times" abgesehen, wurden noch nicht einmal die in der offiziellen Version des Peers-Reports enthaltenen Informationen kritisch ausgewertet - zum Beispiel der Hinweis, daß "Bravo"- und "Charlie"-Kompanie unabhängig von etwaigem Feindbeschuß den Befehl hatten, die Dörfer My Lai und My Khe zu zerstören. Folglich blieb eine von William Eckhardt, Ankläger im My Lai-Prozeß, initiierte und mit privatem Geld durchgeführte Recherche zu My Khe 4 ohne publizistischen Rückhalt. Die "vierte Gewalt" wandte sich alsbald anderen Themen zu, vorab "Watergate". Wie es scheint, war die rasche Abfolge von Skandalen in der Administration Nixon eher der Camouflage als der Aufklärung dienlich.Vgl. David Rudenstine, The Day the Presses Stopped. A History of the Pentagon Papers Case, Berkeley etc. 1996; Anderson, Facing, S.46, 58, 125.
Die noch offenen Fragen wurden mit den Mitteln der politischen Manipulation aus der Welt geschafft. Nicht zuletzt William Peers hatte sich dafür stark gemacht, die anstehenden Verfahren gegen die Mordverdächtigen von My Lai nach dem Muster der Nürnberger Prozesse durchzuführen. Das heißt als Sammelprozeß, der jenseits der Rechtsprechung auch als politisches Signal hätte gewertet werden können. Die amerikanische Gesellschaft sollte auf diesem Wege zu erkennen geben, daß sie ihren Politikern nicht nur das Mandat zur Kriegführung erteilt, sondern von ihnen zugleich erwartet, die im Krieg entfesselte Gewalt mit politischen und juristischen Mitteln im Zaum zu halten. Überdies wollte Peers mit dem Gewohnheitsrecht brechen, demzufolge nur Soldaten im aktiven Dienst wegen Verstößen gegen das Kriegsrecht angeklagt werden konnten. Prinzipiell war es nicht ausgeschlossen, derartige Verfahren einem "Federal District Court" oder anderen Zivilgerichten zu überstellen. Da man seit dem Bürgerkrieg davon keinen Gebrauch gemacht hatte, wäre anläßlich von My Lai eine juristische Prüfung im Grundsatz erforderlich gewesen. Diese wurde freilich aus politischen Gründen verworfen. Statt der 28 von Peers vorgeschlagenen Delinquenten wurden nur 13 unter Mordanklage gestellt - ein Zehntel des ursprünglichen Mannschaftsbestandes von "Charlie Company". Des weiteren sollten sich 12 Offiziere wegen Aktenvernichtung und Behinderung der Justiz verantworten. Alle Prozesse wurden als Einzelverfahren vorbereitet und auf weit voneinander entfernte Militärstützpunkte verteilt. Damit lag "Nürnberg" noch nicht einmal in symbolischer Nähe. Und die Juristen fügten sich den Vorgaben. Aus ihren Reihen kam die wohl treffendste Beurteilung der Lage: "Politics reigns."Vgl. "Government Lawyers Who Seeks War Crimes Tribunal Tread Softly on Constitutional Ground", in: The New York Times, 30. November 1969, S.29; "The My Lai Incident as Case in Law", in: U.S.News & World Report, 22. Dezember 1969, S.34 -36; Jordan J. Paust, "After My Lai: The Case for War Crime Jurisdiction over Civilians in Federal District Courts", in: Texas Law Review, 50, 1971, 1, S.6 -34; Stanley L. Paulson, John S. Banta, "The Killings at My Lai: 'Grave Breaches' Under the Geneva Conventions and the Question of Military Jurisdiction", in: The Harvard International Law Journal, 12. Februar 1971, S.345 - 355; Anderson, Facing, S.49; vgl. ebd., S.44.
"Politics reigns": Im Rückblick können wir feststellen, daß das Pentagon im Einvernehmen mit dem Weißen Haus die Debatte um My Lai zu einem Testfall erklärt hatte. Gerade die Prozesse waren dazu bestimmt, jenes Terrain wiederzugewinnen, das man in den ersten Wochen nach Bekanntwerden des Massakers an Kritiker innerhalb wie außerhalb der Regierung verloren hatte. Man könnte auch von einer demonstrativen Selbstinszenierung der Agenturen des "National Security State" sprechen. Der Umstand, daß das Militär zugleich als Legislative, Exekutive und Judikative auftrat, wurde zur politischen Botschaft an die Zivilgesellschaft aufgewertet: Institutionen, die militärisches Gewaltpotential planen, verwalten oder einsetzen, haben einen Anspruch auf Exklusivität. Sie sind ihr eigener Souverän. Es schien, als wollte man den "National Security Act" von 1947 samt der Tatsachen, die in seinem Vollzug geschaffen worden waren, in den Rang eines Verfassungszusatzes erheben. Die Verbissenheit und Kompromißlosigkeit, mit der die Kontroverse seitens des Militärs ausgetragen wurde, legen diesen Schluß jedenfalls nahe. Folglich war die Politik im Gerichtssaal ein steinerner Gast. Je länger die My Lai-Prozesse dauerten, desto weniger ging es um die Verbrechen und desto leidenschaftlicher befaßte man sich mit den Umständen, die zu ihrer Entschuldigung geltend gemacht werden konnten. Pflicht des Soldaten zum Gehorsam, Befehlsnotstand, Streß, Eigendynamik, mangelndes Urteilsvermögen, unüberschaubare Verhältnisse, Ängste, Überforderung - schier endlos war die Reihe der Gründe, die zum Beweis des immer gleichen aufgeboten wurden: daß die Mörder keine Wahl hatten. Für eine umfassende Beweisaufnahme fehlte es an Personal und am Ende auch an der Motivation. Spätestens im Medina-Prozeß spielte der von Peers in seinen Verhören zugrunde gelegte und von den Calley-Anklägern anfänglich übernommene Fragekatalog keine Rolle mehr. Anders als die Vertreter der Anklage es sich gewünscht hatten, erlebten sie doch noch ihr "Nürnberg" - im dominanten Auftreten von Anwälten, die sich die damalige Verteidigerstrategie zu eigen machten. Verurteilt wurde nur, wer Befehle zu Massenerschießungen mit nachweislich kriminellem Vorsatz erteilt oder wissentlich, mithin in bösartiger Absicht, befolgt hatte. Im Falle von Sergeant Charles Hutto reichte selbst das Geständnis, um die Schändlichkeit der Befehle gewußt und dennoch gemordet zu haben, für einen Schuldspruch nicht aus. Die Militärrichter erkannten "Selbstbezichtigungen"nicht an. Es bedurfte, schrieb Mary McCarthy über die Stimmung im Medina-Prozeß, des Beweises einer "fast schon teleologischen Absicht". Im Grunde trat alles ein, wovor Telford Taylor in seinem 1970 publizierten Buch "Nürnberg und Vietnam" gewarnt hatte.Zu den Unterschieden zwischen dem Calley-und dem Medina-Prozeß vgl.: Stephan Lesher, "The Calley Case Re-Examined", in: The New York Times Magazine, 11. Juli 1971, S.6 -7, 14 -26; Mary McCarthy, Medina. Die My Lai-Prozesse, Zürich 1973, S.48. Zu einem Militärgerichtsverfahren gegen Marines vgl. Gary D. Solis, Son Thang. An American War Crime, Annapolis 1997, S.115 -301. Vgl. Gibson, Warrior Dreams, S.23; Anderson, Facing, S.47, 226; Telford Taylor, Nürnberg und Vietnam. Eine amerikanische Tragödie, München u..1972.
Wir können die My Lai-Prozesse auch, wenn nicht vor allem, als Chiffre für eine historische Regression deuten. Unbedarfte Beobachter hätten den Schluß ziehen können, daß es weder eine Landkriegsordnung noch eine Verpflichtung der einzelnen Soldaten auf deren Bestimmungen gab. Von einer Verantwortung militärischer Vorgesetzter für das Verhalten ihrer Truppen ganz zu schweigen. Das seit den Tagen der Haager und Genfer Konvention gepflegte juristische Erbe, einer Präzisierung des Begriffs "Kriegsverbrechen" gewidmet, schien samt der nach dem Zweiten Weltkrieg in Nürnberg und Tokio durchgeführten Prozesse Makulatur. Morde an Einzelpersonen, Folter, das Zerstören unverteidigter Orte, Deportationen, Erntevernichtung und anderweitige Zerstörung von Lebensgrundlagen, der Mißbrauch von Zivilisten als "Minenhunde" - diese und andere in der Vergangenheit inkriminierte Vergehen wurden während der My Lai-Prozesse nicht mehr als Kriegsverbrechen eingestuft. Im Gegenteil. Als Captain Medina von der Zerstörung eines als Vietcong-Stützpunkt definierten Dorfes berichtete, bediente er sich des Gestus eines zurückhaltenden und maßvollen Kommandeurs - zum Gefallen seiner Richter. Und als Lieutenant Calley verurteilt wurde, drückte das Gericht seine Hoffnung aus, die meisten Opfer in My Lai seien durch Artilleriebeschuß aus Hubschraubern umgekommen - als handelte es sich dabei um einen natürlichen Tod. Die Grenzen des moralisch wie juristisch Akzeptablen hatten sich so weit verschoben, daß Zivilisten als im Krieg entbehrliche Zielobjekte galten. Mary McCarthy sah im damaligen Amerika daher ein Land, "wo man kaum noch an ein übergeordnetes Recht glaubt".McCarthy, Medina, S.51; vgl. ebd., S.33, 47.
"Ich weiß überhaupt nicht, was ein Massaker oder eine Greueltat ist. Dieser Krieg dort drüben besteht doch nur aus Massakern, eines nach dem anderen und Tag für Tag." Paul Meadlos Anwalt fühlte sich wie seine Kollegen als Vorsitzender eines Tribunals, das über weltfremde Ethiker zu Gericht saß. Während draußen Veteranen des Zweiten Weltkriegs und des Korea-Kriegs über ihre vermeintlichen Verbrechen berichteten und gegen sich selbst Anklage erhoben, blätterten die Verteidiger im Buch der Geschichte. General Sherman, verantwortlich für die Politik der verbrannten Erde während des Bürgerkriegs, wurde ebenso als Kronzeuge bemüht wie Joshua, der einst Jericho eingenommen und alle Einwohner hatte ermorden lassen, aber ausweislich des Alten Testaments nicht bestraft worden war. "Krieg ist Krieg", meinte Richter Robert Elliott, "und es ist nicht ungewöhnlich, daß unschuldige Zivilisten wie jene in My Lai getötet werden". Nicht zuletzt mit diesem Hinweis bewilligte Elliott im Jahr 1974 das Gnadengesuch von William Calley. In Elliotts Sprachgebrauch kam der Massenmord von My Lai nur noch als "sogenannte Brutalität" vor. Diese von Juristen öffentlich inszenierte Rechtfertigung weist auf eine bis heute nicht abgetragene Hypothek der My Lai-Debatte hin: Nicht daß das Massaker vergessen wurde, scheint das Problem. Die Erinnerung ist überaus lebendig - in Gestalt der Denunziation von Kriegsrecht sowie der Verhöhnung ihm zugrundeliegender ethischer Normen als Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit.Hersh, My Lai 4, S.174; McCarthy, S. 7, 10, 51, 58; Anderson, Facing, S.45; Bilton, Sim, S.2, 328 ff., 347 ff., 356, 369.
Wie hoch diese Hypothek nach mehr als 30 Jahren noch ist, können wir allenfalls vermuten. Von den US-Streitkräften ist bekannt, daß sie seit den 70er Jahren bei der Ausbildung ihrer Rekruten und Offiziere gesteigerten Wert auf die Unterweisung im internationalen Kriegsrecht legen. Die Curricula entsprechender "Ethik-Kurse", die bei Armee, Marine, Luftwaffe und den Marines verbindlich sind, können über das Internet abgerufen werden. Psychoanalytiker wie Jonathan Shay, aber auch ehemalige Angehörige von "Charlie Company" werden regelmäßig zu internen Vorträgen und Seminaren gebeten. Und von Norman Schwarzkopf, oberster General im Golfkrieg, wird berichtet, daß er kurz vor Kriegsbeginn seine Truppenkommandeure aus einer Lagebesprechung mit dem Satz verabschiedete: "Und denken Sie daran, keine neuen My Lais." Kritiker des Militärs haben insofern leichtes Spiel, als es keine verläßlichen Untersuchungen zum Mentalitätswandel im Offizierskorps oder zur Rezeption der besagten "Ethik-Kurse" gibt. Überdies stimmt die Sturheit der Militärjuristen skeptisch. Sie haben nämlich im Laufe der Jahre alle Bemühungen um eine Reform militärischer Rechtsprechung abgewehrt - darunter den Vorschlag, den seit 1950 gültigen "Uniform Code of Military Justice" dahingehend zu ändern, daß sich Soldaten im Falle unterlassener Hilfeleistung für Zivilisten nicht mehr unter Berufung auf die Klausel eines "neglicent homicide", eines durch "Versäumnisse "verschuldeten Mordes, herausreden können, sondern für eine solche Unterlassung haftbar gemacht werden. Ebensowenig wurde die Forderung berücksichtigt, im Rückgriff auf den in Tokio geführten Prozeß gegen General Yamashita die Strafbestimmungen für ihre Aufsichtspflicht vernachlässigende Offiziere zu verschärfen. Während diese Debatten im Militär hinter verschlossenen Türen geführt wurden, machte sich die Öffentlichkeit das Stichwort des "public healing" zu eigen. Dahinter verbirgt sich ein schier übermächtiger Wunsch der Aussöhnung auch und gerade mit den Tätern. Einige von ihnen, wie etwa Colonel Frank Barker, Namengeber der in My Lai eingesetzten "Task Force", sind auf den Marmorwänden des "Vietnam Memorial" in Washington namentlich erwähnt - in einer Reihe mit Tausenden anderen amerikanischen Gefallenen wird ihrer als Opfer des Kriegs gedacht. Vor dieser Haltung hatte Jonathan Schell bereits Ende 1969 gewarnt. Weil sie es zuläßt, den Krieg als falsch und amoralisch zu kritisieren, ohne an der Amoralität seiner Verbrechen Anstoß zu nehmen.Informationen zum "Military Ethics Program "sind u.a. über folgende Internet-Adressen abrufbar: http://www.luna.cas.usf.edu/-bertha/me.html;
http://www.defenselink.mil/dodgc/defenseethics/main.html;
http://www.mcu.quantico.usmc.mil/www/library/Ethics.html;
http://www.ogc.secnav.hq.navy.mil/ogcwww/ethics.html.
Vgl. John W.Brinsfield, "Army Values and Ethics: A Search for Consistency and Relevance", in: Parameters. US Army War College Quarterly, 28, 3, 1998, S.69 -84; Joseph Goldstein, Burke Marshall, Jack Schwartz, The My Lai Massacre and Its Cover-Up: Beyond the Reach of Law?, New York, London 1976; Richard Falk, Gabriel Kolko, Robert Jay Lifton (Hrsg.), Crimes of War. A Legal, Political-Documentary, and Psychological Inquiry Into the Responsibility of Leaders, Citizens, and Soldiers for Criminal Acts in Wars, New York 1970; Guenter Lewy, "The Punishment of War Crimes: Have We Learned the Lessons of Vietnam?, in: Parameters. US Army War College Quarterly, 9, Dezember 1979, S.12 -19; Anderson, Facing, S.47 ff., 84, 181, 220; Engelhardt, Victory Culture, S.217 ff., 223 ff.; Bilton, Sim, Four Hours, S.328 ff.