Alte und neue Geschichtsmythen

Mit der Osterweiterung kommt ein Diskurs auf, der immer vehementer die Vorstellung eines einigenden Gründungsgedankens der Europäischen Union in Frage stellt. Die innerstaatlichen Debatten um die Verstrickungen der je eigenen Vergangenheiten werden somit auf eine europäische Ebene verlagert. Ein wesentlicher Exponent dieser Auseinandersetzung ist der renommierte polnische Journalist Adam Krzeminski mit seinem vielbeachteten Essay “As many wars as nations. The myths and thruths of World War II”. Bei ihm wird der Gründungsgedanke der EU, der die ehemals blutigen Differenzen in einem “Nie wieder!” überwinden sollte, zum “Gründungsmythos”, den es gleich zweimal in Frage zu stellen gelte.

Zum einen gäbe es, so Krzeminski, nicht einen Mythos, sondern vielmehr viele Mythen – so viele wie Nationen in das Kriegsgeschehen involviert waren. Jede von ihnen habe eine eigene nationale Erzählung der Ereignisse entwickelt. Daher auch der Titel seines Essays. Zum anderen aber würden diese Mythen alles andere als einigend wirken: Er diagnostiziert vielmehr einen regelrechten “clash” dieser nationaler Mythen, so sein prägnantes Wort. Nicht nur gäbe es, so sein Befund, keinen gemeinsamen Blick auf die Zeit von 1939-1945, sondern diese jeweiligen nationalen Erzählungen würden auch noch miteinander konkurrieren. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg führe zu keiner Einheit, sie spalte vielmehr. Eine Spaltung, die dem Unternehmen einer europäischen Einigung nunmehr vehement im Wege steht.

Krzeminski unterstellt, dass die Vorstellung eines “Gründungsmythos” selbst ein Mythos sei – anders gesagt, ein hegemoniales Unternehmen, das eine bestimmte Erzählung der Vergangenheit vorherrschen lässt und dabei sowohl die unterschiedlichen Erfahrungen als auch die verschiedenen Mythologisierungen unterschlägt.

Versuchen wir zu verstehen, was dies bedeutet. Krzeminski weist nicht nur die ehemals vorherrschenden Kriegsnarrative der USA und der UdSSR zurück, die diese für je unterschiedliche Legitimationen missbraucht haben. Krzeminski verneint auch den Holocaust, seit den 1970er Jahren die zentrale Perspektive auf die Geschehnisse, als gemeinsame Grundlage der EU. Der industrielle Massenmord wird als gemeinsame europäische Grunderfahrung zurückgewiesen. Aus seiner Sicht scheint der Holocaust als Gründungsmythos der EU unzureichend, da er eine Universalisierung bedeute, die die nationalen Erfahrungen unterschlägt. Unausgesprochen wird das Narrativ des Holocaust im Hinblick auf die EU damit gleichfalls zu einem hegemonialen Diskurs. Genau in diese Kerbe stösst auch Timothy Snyder mit seinem Text “Vereintes Europa, geteilte Geschichte”: Die Osterfahrungen seien nicht integriert in der EU, so Snyder. Dies wäre die Ursache für die mangelnde europäische Einheit und Solidarität. Während es bei Krzeminski die Unterscheidung zwischen den – traumatischen – Erfahrungen und den Mythologisierungen gibt, fehlt diese Differenz bei Snyder völlig. Er spricht nur von den Ost-Erfahrungen, was gleichbedeutend mit den Leiden, die der Osten erfahren hat, ist. Beiden gemeinsam ist aber die Stossrichtung, nach der eine tatsächliche europäische Einigung nur dann möglich wäre, wenn sie die Kriegserfahrungen ihrer neuen Mitglieder zu integrieren vermag. Es gelte, das vorherrschende Narrativ der EU zu korrigieren und eine Geschichtsversion durchzusetzen, die ein Ankommen bei der – derzeit unterschlagenen – historischen Wahrheit wäre. Es geht bei dieser Auseinandersetzung also um die Anerkennung der Erfahrungen des Ostens, d.h. um die Anerkennung seiner Leiden. Das ist die zentrale Perspektive. Dies impliziert nun zweierlei.

Zum einen wird dagegen angegangen, dass für die Zeit von 1939-1945 die Rolle des Opfers eindeutig bestimmt ist. Anders gesagt, implizit wird die Erinnerung an den jüdischen Genozid zum jüdischen “Opfermonopol”, zu einem Narrativ, das die Würdigung und Anerkennung aller anderen Opfer verdeckt. Zum anderen zeigt sich hier das Misstrauen gegen die europäische Gedenkpolitik, die als neues Hegemonieunternehmen bewertet wird.

Insgesamt scheint es aber, dass solche Positionen die derzeitige Entwicklung falsch einschätzen. Diese lässt sich besser mit dem französischen Lacanianer Jean-Claude Milner in den Blick bekommen. Milner entwirft ein Bild, in dem sich ein europäischer demos von der Vorstellung des EINEN Volkes, also eines begrenzten Ganzen, hin zu jener eines unbegrenzten Ganzen entwickelt, das tendentiell alle inkludiert und zunehmend keine Ausnahmen mehr kennt. Durch seine konstante Erweiterung werde Europa zunehmend zu dem, was der Psychoanalytiker Jacques Lacan “nicht-alles” genannt hat: eine unabgeschlossene, unbegrenzte, allumfassende Einheit. Bedingung für solch ein Europa sei aber, “das Auslöschen aller trennenden historischen Traditionen und Legitimationen” – im Gegensatz zu Krzeminski, der ganz im Gegenteil die Rückkehr der konfrontativen nationalen Mythen, deren “clash”, sieht: Die Fortsetzung des Krieges mit den Mitteln der Erinnerung.

Mit Milner muss man gegen Krzeminski also einwenden: die von ihm erhoffte Befreiung von den trennenden Narrativen findet längst statt – und Ereignisse wie die von ihm angeführte Nichtteilnahme der Litauer und Esten an den Feierlichkeiten zum Siegesgedenken in Moskau sind nur die eine Seite der Entwicklung. Deren andere, nachhaltigere Seite lässt sich mit Milner in der genau gegenteiligen Bewegung erkennen: die nationalen Differenzen der Erinnerung werden zunehmend aufgehoben. Diese werden dabei aber nicht unterschlagen und verdrängt. Vielmehr erleben wir das Entstehen eines neuen Mythos, der genau aus diesen Erzählungen gewebt wird: die nationalen Heldenlegenden, die heroischen Erzählungen werden ersetzt durch jene des eigenen Leidens und Opfertums. In diesem Sinne sind Texte wie die angeführten performativ: Sie tragen zur Fortbildung dieses neuen Mythos bei. Die moralische Gleichsetzung aller Opfer des Zweiten Weltkriegs ist längst über den Revisionismus hinaus zu einem allgemeinen Diskurs geworden, der die allgemeine Anerkennung des Leidens einfordert – jenes der Deutschen unter den Allierten Bombardements ebenso wie jenes der Vertriebenen.

In der alten Bundesrepublik Deutschland ging es noch um eine unbezwingbare Empathie mit den fremden Opfern. Ich erinnere mich an eine Folge der “Lindenstraße” – jene TV-Serie, die alle deutschen Befindlichkeiten in alltagstaugliche Konflikte zu übersetzen wusste -, wo dieser Drang seinen idealen Ausdruck in den pubertären Aufwallungen einer Jugendlichen fand, die ihn in einer Rasur ihres Haupthaares auslebte, um sich derart kahlköpfig ihrer schockierten Umwelt als Erinnerung an einen KZ-Häftling zu präsentieren. Heute hat sich diese “unmögliche Empathie”, diese “inakzeptable Identifikation” (Diederich Diederichsen) mit den fremden Opfern vehement verschoben – hin zur Entdeckung des eigenen Opfertums. Wenn es heute einen “clash” der Erinnerungen gibt, dann ist es jener der konkurrierenden Opfererzählungen. Grundlegend ist: die neue Erzählung, jene die die europäische Einheit herstellen und die in der Anerkennung aller Opfer bestehen soll, ist erreichbar nur durch die Aufweichung des Opferbegriffs bis hin zu einem Allgemein-Menschlichen, das von der Differenzierung in Opfer und Täter absieht.

Im Westen vollzieht sich dies durch die Privatisierung des Gedenkens. Die gefühlte Geschichte füllt zusehends den gesamten Erinnerungsraum. Die Zeit von 1939 bis 1945 wird als subjektiv erlebte Leiderfahrung erzählt. Damit wird ein biographischer Blick auf die Geschichte eröffnet. Dies bedeutet heute, 60 Jahre danach, vorwiegend jenen einer Familienerinnerung, die nicht mehr hauptsächlich an die eigene Erfahrung gebunden ist. Dabei kommt es naturgemäß zu Konstruktionen, in denen versucht wird zu rationalisieren, zu exkulpieren – kurz, ein Gutes auszumachen. Geschichte als Erinnerung an innerfamiliäres Leid vollzieht sich vor allem unter dem Zeichen des Verstehens.

Solche Privatisierung rückt statt gesellschaftlicher und politischer Zusammenhänge den Menschen als Einzelnen in den Vordergrund. Nun könnte man argumentieren – und genau dies passiert ja überall -, dass dies einen Zugewinn an historischer Konkretion bedeutet. Tatsächlich aber befördert es die Entpolitisierung der Geschichte. Denn die Konkretion des Persönlichen ist gleichzeitig auch eine Abstraktion: Sie lässt alle näheren Bestimmungen hinter sich und schließt die Erfahrungen des Einzelnen unmittelbar mit dem allgemein-menschlichen Leid in einem neu definierten, universellen Opferbegriff kurz. Damit entsteht ein ganz anderer Opfermythos. Und dieser fügt sich nahtlos in die gegenwärtig vieldiskutierte europäische Gedächtnispolitik ein.

Dieser neue Opferstatus ist ambivalent: einerseits bedeutet er das Einreihen ins Allgemein-Menschliche, andererseits erlaubt er es gleichzeitig, einen “Distinkstionsgewinn zu erzielen” (Norbert Frei), denn die Anerkennung als Opfer bringt einen identitären Mehrwert. Dieser besteht nicht zuletzt in einer neuen Subjektivität, die sich nach dem Wort des französischen Philosophen Alain Badiou folgendermaßen charakterisiert lässt: “Mensch, das ist das, was sich als Opfer wiederzuerkennen vermag”. Das mag vielen nationalen Geschichtserzählungen als Befreiung erscheinen. Wenn sich herausstellen sollte, dass dies das spezifisch Europäische dieser Subjektivität ist – dasjenige, was Snyder als “gemeinsame europäische Kultur” sucht -, dann wäre dies eine pervertierte Realisierung des europäischen Gründungsgedankens. In jedem Fall aber muss man Snyder und Krzeminski entgegenhalten, dass der gemeinsame Blick auf die Vergangenheit sich bislang offenbar nur durch ein Weniger an Konkretion, durch eine Entpolitisierung des Gedenkens und nicht durch ein Mehr an Wahrheit erreichen lässt.

Published 30 September 2005
Original in German

© Isolde Charim / Eurozine

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